Sozialwissenschaftliche Vernunft

»Ami, go home!«

Redebeitrag am Freitag, 12.08.2022 auf dem Karlsruher Marktplatz am Offenen Mikrofon der Veranstaltung »Fassadendemokratie«

Während der 68er-Zeit, aber auch auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre, konnte man häufig die Parole vernehmen: »Ami go Home!« Letztes Jahr, 2021, hat sogar ein Journalist, nämlich Stefan Baron, den der Buchhandel als »SPIEGEL-Bestseller-Autor« bewirbt, ein Buch mit diesem Titel geschrieben, und er plädiert darin für eine selbständige Rolle Europas unabhängig von der amerikanischen Weltmachtpolitik. In diesem Sinne möchte ich heute ein paar Takte dazu sagen, warum ich es in der Tat für eine gute Idee halte, die Parole »Ami go home« heute wieder aufzugreifen, und dazu, warum diese Parole nicht »anti-amerikanisch« ist.

Ich möchte aber beginnen mit ein paar positiven Bemerkungen über die Vereinigten Staaten von Amerika. Ich kann in einigen Hinsichten durchaus pathetisch pro-amerikanisch sein. Zum einen bin ich gebürtiger Wessi, und ich war zumindest bis 1989, trotz meiner Sympathie für die Friedensbewegung, grundsätzlich damit einverstanden, dass Westdeutschland im Kalten Krieg in das westliche Militärbündnis eingeordnet war – und zwar eigentlich hauptsächlich darum, weil ich sehr enttäuscht gewesen bin von dem, was auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs als »Sozialismus« verkauft worden ist. Und so habe ich beispielsweise immer die Berliner Luftbrücke bewundert, eine kluge Idee und eine logistische Meisterleistung, sich dem damaligen Erpressungsversuch durch den Genossen Stalin zu widersetzen, ohne deswegen einen Krieg anzufangen.

Aber etwas anderes ist mir noch wichtiger: 1848 und 49 hatten wir in Europa revolutionäre Zeiten. Wir hatten das Paulskirchenparlament in Frankfurt, und nachdem dies gescheitert war, hatten wir 1849, zwischen Mai und Juli, hier in Karlsruhe, ein badische Revolutionsregierung, und zwar im Zeichen der schwarz-rot-goldenen Fahne, die damals ein Fahne der Revolution gewesen ist! Viele der damaligen Revolutionäre haben sich in die Geschichtsbücher eingeschrieben: Friedrich Hecker aus dem Kraichgau, dem das Heckerlied gewidmet ist. Ludwig Blenker aus Worms, Offizier in der Badischen Revolutionsarmee. August Willich aus Ostpreußen, 1848 der militärische Führer des Heckerzuges. Franz Sigel aus Sinsheim, Oberbefehlshaber der Badischen Revolutionsarmee, und viele andere, ich könnte diese Aufzählung noch ein Weilchen fortsetzen.

Nachdem die Revolution in Deutschland, zuletzt in Sachsen und in Baden, von den Preußen im Blut erstickt worden war – wohin haben sich die Überlebenden gewandt? Die meisten von ihnen haben eine neue Heimat in den Vereinigten Staaten gefunden, als die Generation der Achtundvierziger, der Forty-Eighters, und die eben namentlich Genannten haben eine noch weitere Gemeinsamkeit: sie haben im Generalsrang auf der Seite der Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft, häufig als Kommandeure deutschsprachiger Freiwilligenregimenter – »I fights mit Sigel« war ein geflügeltes Wort im 3. Missouri-Infanterieregiment, und am Riverside-Drive in Manhattan hat man für Franz Sigel immerhin eine Reiterstatue aufgestellt.

Und darum sehe ich die Amerikaner, die 1945 nach Deutschland gekommen sind, eben nicht bloß als »kulturfremde Besatzer«, wie eine klischeehafte Kritik lautet, sondern tatsächlich auch als Befreier, denn das waren unter anderem auch die Enkel und Urenkel derjenigen, die 1849 wegen ihres Bekenntnisses zur Demokratie hier bei uns von der preußischen Militärmaschine aus dem Land gejagt wurden!

Heute aber, am Beginn der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts, finde ich es nicht mehr nur fragwürdig, sondern rundheraus selbstzerstörerisch, wenn Deutschland und Europa sich außenpolitisch weiterhin an den Wünschen und Vorgaben der Vereinigten Staaten orientieren. Warum ist das so? Dafür gibt es ideologische, geostrategische und ökonomische Gründe.

Im Zentrum der westlichen Militärmacht steht seit dem Zweiten Weltkrieg das, wovor schon Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsrede vom Januar 1961 gewarnt hat: der militärisch-industrielle Komplex der USA. Der wird finanziert aus dem amerikanischen Haushalt. Das Verteidigungsbudget der USA beläuft sich seit 1990 je nach Jahr zwischen 500 und 900 Milliarden Dollar jährlich, das ist das doppelte des russischen und chinesischen Budgets zusammengenommen, ausgegeben wird es – um nur ein Beispiel zu nennen – für die Navy, die Flotte: eine Flugzeugträgerkampfgruppe, Carrier Strike Group, kostet 20-30 Milliarden Dollar in der Anschaffung und 300 Millionen jährlich im Unterhalt, die USA haben derzeit neun solcher Kampfgruppen, es waren auch schon mehr, da die USA zwischen zwei Weltmeeren liegen, sind diese Trägergruppen, aufgeteilt auf sechs Flotten, ein Kernstück globaler amerikanischer Machtprojektion.

Da die USA seit dem Vietnamkrieg militärisch weit über ihre finanziellen Verhältnisse leben, befindet sich ihr Haushalt permanent im Defizit, weil aufgrund der Umsetzung des Weltmachtanspruchs auch viel Geld ins Ausland abfließt, befindet sich die Außenhandelsbilanz ebenfalls im Defizit, weil die USA aber die führende Macht des Westens sind, erwarten sie, dass ihre Verbündeten und alle, die nicht als Gegner der USA betrachtet werden wollen, ihre eigenen Bilanzüberschüsse zum Ankauf amerikanischer Staatsanleihen verwenden, womit die ganze Welt im Einzugsbereich des Dollars die amerikanischen Defizite finanziert: das ist der sogenannte Dollar-Imperialismus.

Diese politisch-ökonomische Ordnung fand ihre historische Rechtfertigung in den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges. Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 ist sie jedoch niemals an die veränderten Rahmenbedingungen der neu entstandenen multipolaren Welt angepasst worden. Statt dessen haben führende geopolitische Ideologen der USA zu Beginn des neuen Jahrtausends ein »neues amerikanisches Jahrhundert« ausgerufen, um die bestehende Hegemonie der Supermacht gegen anstehende Veränderungen abzuschirmen. Dieses von Beginn an überhebliche »amerikanische Jahrhundert« ist heute im Begriff, am Machtzuwachs der aufstrebenden Nationen insbesondere Asiens, künftig auch Lateinamerikas und Afrikas, zu zerschellen, und verführt die politischen Eliten der USA – und in ihrem Fahrwasser die unterwürfigen Eliten Europas – zu einer Politik der Konfliktzuspitzung und gewaltsamen Konfliktaustragung, deren Kosten und Gefahren innerhalb der westlichen Welt vor allem Europa zugemutet werden.

Am Ende des Kalten Krieges ist auch die Ideologie vom »Ende der Geschichte« entstanden, mit der die kritische Selbstbetrachtung der westlichen Gesellschaften durch das unreflektierte und korrumpierende Überlegenheitsgefühl ersetzt wurde, als Sieger des Kalten Krieges in jedem politischen Handeln gerechtfertigt zu sein. Dieser Sieg hat sich insbesondere auch innenpolitisch als vergiftetes Geschenk erwiesen, weil er der politischen Klasse der repräsentativen Demokratie ermöglicht hat, grundsätzliche Kritik an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen als gegen die liberale Gesellschaft feindselig und rückwärtsgewandt zu brandmarken. Die seit 1991 immer deutlicher werdende Doppelmoral westlicher Politik wurde auf diese Weise dauerhaft verdrängt und unsichtbar gemacht. Insbesondere auch die westliche Verantwortung für den Krieg in der Ukraine seit 2014 wird auf diese Weise vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt.

Heute stellt die Dominanz des mit dem Anspruch auf Weltmachtstellung untrennbar verbundenen militärisch-industriellen Komplexes der Vereinigten Staaten in derselben Weise ein historisches Verhängnis dar wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Institution der Sklaverei. Er ist für zu viele daran Beteiligte zu gewinnbringend, als dass seine Abschaffung oder deutliche Verkleinerung und damit die Beseitigung seiner verhängnisvollen Wirkungen auch nur denkbar wäre. Er ist ein rüstungs- und verwaltungstechnisches Uhrwerk, das die amerikanisch dominierte Welt in Gang und von bestandsgefährdenden Abweichungen frei hält. Zugleich sind die USA aber auch ein Land, das gegen die eigene Bevölkerung Krieg führt: das betrifft die inneren Überwachungsmaßnahmen aus Anlass des »Kriegs gegen den Terror« ebenso wie die Kriminalisierung der Armen aus Anlass des »Kriegs gegen die Drogen«: die USA sind das Land mit der höchsten Inhaftierungsquote, also des höchsten Anteils der im Gefängnis sitzenden eigenen Bevölkerung, der Welt, also noch vor Russland, China und Brasilien, und seit Abschaffung des sowjetischen Gulag.
Die USA sind ein weithin deindustrialisiertes Land, in manchen Regionen mit einer maroden Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Lebenserwartung wie ein Land der sogenannten Dritten Welt, mit einer notorisch übergewichtigen Bevölkerung, mit einer Epidemie der Selbstmorde, einem grassierenden tödlichen Medikamentenmissbrauch, einer weiter stark zunehmenden Zahl von Amokläufen, also »mass shootings«, ziviler Waffengewalt, und schließlich mit Bevölkerungsgruppen, die in einem Ausmaß gespalten und verfeindet sind wie zuletzt vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs.

Es ist ein folgenschwerer Irrtum, zu glauben, dass deutsche und europäische Interessen im Rahmen der Geostrategie dieser Vereinigten Staaten von Amerika heute noch gut aufgehoben sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die USA bestehen weiterhin darauf, dass ihre Verbündeten die amerikanischen politischen, militärischen und ökonomischen Rechnungen bezahlen, und sei es um den Preis des eigenen Ruins, und um den Preis eines fortgesetzten Ruins auch der amerikanischen Bevölkerung selbst. Der politischen Klasse der USA als Europäer eine rote Linie des »Bis hierhin und nicht weiter!« zu ziehen, ist nicht nur nicht antiamerikanisch: sondern ein Akt der aktiven Solidarität mit dem amerikanischen Volk!

Wir können damit beginnen – nur als Einstieg, indem wir uns zum einen nicht nur weigern, selbstzerstörerische Sanktionen gegen ein Land zu verhängen, das davon den geringsten Schaden hat, und nichts weiter zu tun braucht als seine Märkte weg vom Westen umzuorientieren, und zum anderen, indem wir als Europäer das transatlantische Militärbündnis, die NATO, verlassen, und stattdessen eine europäische Verteidigungsgemeinschaft gründen, wie das in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts unter französischer Führung schon einmal konzipiert worden ist. Die politische Klasse der USA wird freilich versuchen, jeden zum Feind zu erklären und zu bestrafen, der als politisch Verantwortlicher auch nur in diese Richtung denkt.

Für Thomas Jefferson, den dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten und Zeitgenossen Napoleons, waren die USA ein »Empire of Liberty«. Mit Bezug darauf kann ich sagen: so, wie ich in den 80er Jahren vom bürokratischen Sozialismus jenseits des Eisernen Vorhangs gründlich enttäuscht war, so bin ich heute gründlich enttäuscht von dem, was aus diesem »Empire of Liberty«, dem liberalen Imperium des Westens, geworden ist: »It’s all Empire, but no more Liberty«.

Vielen Dank!

7 Kommentare

  1. Jo

    Das ist genau nach meinem Geschmack! Diesen Gedanken der Notwendigkeit möglichst weitgehender nationaler und europäischer Unabhängigkeit von den Intrigen und Begehren der USA oder zumindest (zunächst) die Verunmöglichung der essenziellen und existenziellen Souveränitätsbeeinträchtigung/Korrumpierung (wie verunmöglichen? schließlich im Außen etwa durch Erzeugung von ausreichender Gegenabhängigkeit der USA oder ihrer Machteliten von uns und Erlangung von von ihnen wahrgenommenem, aber ausreichend überschätztem oder nicht einschätzbarem Bedrohungsfähigkeitspotenzial ihnen ggü./ von Macht über sie) hege und entwickle ich schon seit ca. 5 Jahren. Und die Dringlichkeit wird immer größer, dass sich was in diese Richtung tut. Aber bis der finale Schritt erfolgen kann, muss Deutschland u.a. (letztlich falsche) Abhängigkeit, relative Servilität und Harmlosigkeit dort ankommen lassen.

    • Ingbert Jüdt

      Vielen Dank für den Kommentar, ich hoffe, ich habe den Begleitkommentar bezüglich der gewünschten Korrektur richtig verstanden. 🙂

      • Jo

        Jepp, danke. 😉

  2. pingpong

    Die Lokalisierung (Eingrenzung auf ein kleinräumiges Umfeld) der eigenen Abhängigkeiten ist das Wichtigste was man tun kann, um den psychopathischen Globalisten die Macht und Kontrolle zu nehmen. Und man kann HEUTE damit beginnen.

    #lokalismus

  3. Jo

    Vielleicht interessiert die Leser dieses Beitrags auch der von mir gerade entdeckte Artikel “Erst Ukraine, dann Naher Osten und Pakistan? Wie das im Corona-Wahn umnachtete Deutschland das Zeitgeschehen verschläft und in einen endlosen Krieg zieht” von Johannes Mosmann.
    https://www.themen-der-zeit.de/erst-ukraine-dann-naher-osten-und-pakistan/

  4. Jochen Schmidt

    Falls diesen Tweet jemand noch nicht kennt:

    https://twitter.com/zlj517/status/1559530185686675457

  5. uepsilonniks

    Wunderbar erklärt, warum man US-Politik ablehnt aber nicht das amerikanische Volk, welches unter der Herrschaft des Imperiums genauso zu leiden hat, dass man also nicht nur einen stumpfen Antiamerikanismus pflegt. Danke.

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