Sozialwissenschaftliche Vernunft

Buchprojekt: Über den Bankrott der westlichen Werte – ein »Anti-Fukuyama«

In den letzten drei Jahren ist so viel passiert, dass meine ursprüngliche, langfristige Planung für meine Schreibprojekte nicht mehr funktioniert. Ganz konkret habe ich das Projekt eines weiteren Buches über den modernen Feminismus, an dem ich unter dem Arbeitstitel »Mythus des 21. Jahrhunderts« gearbeitet habe, bis auf weiteres auf Eis gelegt. Stattdessen arbeite ich nun an einem Buch, in dem ich versuche, das, was sich in den letzten drei Jahren an krisenhafter Entwicklung ereignet hat, im Lichte dessen zu interpretieren, was sich in den dreißig Jahren davor ereignet hat, das heißt: seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Vorbehaltlich eines endgültigen Buchtitels wähle ich den Namen Über den Bankrott der westlichen Werte gleichsam als »unclassified nickname« für das Projekt.

Das Buch ist als ein »Anti-Fukuyama« gedacht: als ein Angriff auf die 1989 aufgekommene These, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs sei die Weltgeschichte im Zeichen einer weltweiten westlichen Vorherrschaft an ihr geschichtsphilosophisches Ende gekommen. Ich füge als Erläuterung an, was ich mir derzeit als Klappentext für das Buch vorstelle:

Vierzig Jahre neoliberale Welt- und Gesellschaftsordnung unter globalem amerikanischem Führungsanspruch haben den Kern der »westlichen Werte«, die Idee der liberalen, rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaft, durch Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral bis ins Innerste ausgehöhlt, sie auf eine potjomkinsche Fassade von Ideologie und Propaganda reduziert und die Berufung auf diese Werte in einen kollektiven Selbstbetrug verwandelt, auf den weniger das Marxsche Bild vom Opium passt als vielmehr die Analogie eines Realitätsverlust erzeugenden Halluzinogens und eines kollektiven psychotischen Schubs.

Zum Inbegriff dieser historischen westlichen Selbsttäuschung ist die von Francis Fukuyama erstmals 1989 und dann ausführlich 1992 formulierte These geworden, mit der globalen Durchsetzung des westlichen liberalen Gesellschaftsmodells sei das »Ende der Geschichte« im Sinne der Hegelschen Geschichtsphilosophie erreicht worden. Der Westen redete sich damals ein, er habe nicht nur den Kalten Krieg gewonnen, sondern sei damit zugleich als Sieger des gesamten menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsrennens von der Steinzeit bis ins Atomzeitalter hervorgetreten. Alle anderen Völker und Nationen unseres Planeten wurden damit zu Nachzüglern erklärt, deren einzige verbleibende Aufgabe nur noch darin bestehe, zu uns, dem institutionellen und moralischen Maßstab der Weltgeschichte, aufzuschließen.

Aber Fukuyama hat seinen Hegel oberflächlich gelesen. Dieses Buch nimmt Hegels Philosophie zum Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie sich der maßlose Anspruch des Westens von 1989, der sich in der zur Leitidee gewordenen These Fukuyamas verkörpert, seither durch eigenes Verschulden dialektisch in sein Gegenteil verkehrt und die heutige Krise des Westens und seiner Werte hervorgebracht hat.

Die Arbeit an diesem Buchprojekt ist dann auch der Hauptgrund dafür, dass ich im Augenblick keine Blogposts mehr verfasse: mir fehlt dazu die Zeit. Daher werden sie bis auf Weiteres die Ausnahme bleiben.

7 Kommentare

  1. pingpong

    Ist nicht die Entwicklung der modernen westlichen freiheitlich-liberalen Demokratie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in einem gewissen Sinn das “Ende der Geschichte”?

    Wir haben ja tatsächlich seither keine höhere Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht. Was wir stattdessen haben ist ein Rückfall in vergangene und eigentlich überwundene feudale Strukturen. Solange wir nicht über das was wir bereits erreicht haben hinauskommen, kann man es in diesem Sinn durchaus als “Ende” bezeichnen, oder?

    • Ingbert Jüdt

      @pingpong:

      »Ist nicht die Entwicklung der modernen westlichen freiheitlich-liberalen Demokratie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in einem gewissen Sinn das “Ende der Geschichte”?«

      Genau das ist ja die These von Fukuyama. Ich halte sie für verfehlt.

      Erstens kann man die liberale Demokratie westlichen Typs als dysfunktional betrachten, weil ihre Form der repräsentativen Demokratie defizitär ist und sie sich heute in einer Devolution zum autoritären Überwachungsstaat befindet. Sie ist also mitnichten der Endpunkt einer Entwicklung hin zu einer Gesellschaft der Wirklichkeit der Freiheit (Hegels Kriterium). Das könnte man vielleicht noch mit einem »Rückfallargument« auffangen.

      Zweitens hat sich die kapitalistische Entwicklung in Gestalt der neoliberalen Ordnung als inhärent krisenhaft herausgestellt, erfüllt also nicht das Hegelsche Kriterium eines Verschwindens der dialektischen Widersprüche. Fukuyama hatte so simpel wie dreist behauptet, der Kapitalismus der 80er Jahre sei gleichbedeutend mit der »klassenlosen Gesellschaft«. Dabei hatte er wahrscheinlich die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« der Nachkriegszeit im Sinn, aber dabei übersehen oder unterschlagen, dass eben deren Voraussetzung in den neoliberalen Wirtschaftsregimes wieder revidiert wurden, und auch die vorausgehende Epoche des »Klassenkompromisses« war keine Epoche der Aufhebung dialektischer Widersprüche. Die kapitalistische Entwicklung ist also noch nicht am Ende.

      • pingpong

        Ich kenne weder das Buch noch die Definition von Fukuyama, was genau er unter dem “Ende” versteht.

        Bei abstrakten Entwicklungen wie der der Gesellschaft oder des Kapitalismus ist es m.E. schwer von einem Ende zu sprechen. Das würde ja bedeuten, dass es einen Punkt gibt an dem sich Gesellschaft/Kapitalismus nicht mehr ändern – das ist offensichtlich Unsinn.

        Wenn man konstatiert dass wir auf der Leiter der gesellschaftlichen Entwicklung mit der westlich-liberalen Demokratie einen Höhepunkt erreicht haben, über den wir bisher nicht hinausgekommen sind, sondern stattdessen wieder Rückschritte gemacht haben, dann ist dieser bisher höchste erreichte Punkt in einem gewissen Sinn das “Ende”.

        “Ende” bedeutet in diesem Sinn nicht, dass die westlich-liberale Demokratie fehlerfrei ist.

        • Ingbert Jüdt

          Das Konzept beruht auf Annahmen der Hegelschen Geschichtsphilosophie, die Fukuyama aufgreift, nämlich: dass die menschliche Geschichte einen Endzweck hat (die Verwirklichung der Freiheit als dem Wesen des Menschen), und dass die Geschichte sich in diese Richtung durch eine Folge von dialektischen Widersprüchen und ihrer Aufhebung entwickelt. Demzufolge endet die Geschichte in dem Moment, in dem alle menschlichen Gesellschaften einen Staat der Freiheit entwickelt haben. Danach gibt es zwar noch Geschehnisse, aber keine Geschichte mehr, weil die im Staat organisierten Menschen eine endgültige Form nicht mehr grundsätzlich veränderungsbedürftiger Institutionen gefunden haben. Es gibt keine politischen (oder ökonomischen – aber das ist schon Marx’ Rezeption von Hegel) Spannungen mehr, die noch neuartige institutionelle Formen hervorbringen würden. Fukuyama will durchaus insinuieren, dass die liberale Demokratie in einem grundsätzlichen Sinne »fehlerfrei« ist.

          Das Argument eines Rückschritts ist bei Hegel (und Fukuyama) nicht vorgesehen (jedenfalls nicht global auf die ganze Weltgeschichte bezogen): es gibt zur Spannungen, die zur Auflösung drängen, und dabei neue (institutionelle) Formen hervorbringen. Eine Gesellschaft kann stagnieren (auch verfallen), aber dann wird sie eben von einer anderen Gesellschaft überholt, und die Dialektik der Weltgeschichte setzt sich an anderen geographischen Orten fort.

          Ich würde auch (in Kürze und Vereinfachung) sagen: was uns als Rückschritt der Demokratie erscheint, ist tatsächlich Produkt eines (dialektischen) Widerspruchs von Kapitalismus und Demokratie, und das, was aus der Aufhebung dieses Widerspruchs resultieren mag, liegt noch in der Zukunft, weshalb die Geschichte nicht zu Ende ist. QED. 🙂

          • pingpong

            Das Konzept beruht auf Annahmen der Hegelschen Geschichtsphilosophie, die Fukuyama aufgreift, nämlich: dass die menschliche Geschichte einen Endzweck hat (die Verwirklichung der Freiheit als dem Wesen des Menschen), und dass die Geschichte sich in diese Richtung durch eine Folge von dialektischen Widersprüchen und ihrer Aufhebung entwickelt.

            Danke für die Erklärung.

            Ich würde sagen, solange nicht geklärt was mit der Frage überhaupt gemeint ist, ist es müßig darüber zu spekulieren ob nun das Ende erreicht ist oder nicht.

            Man KANN natürlich das alles so ansetzen und definieren, die ganze Sache wird dann allerdings m.E. im wesentlichen ein linguistisch-philosophisches Scheinproblem.

  2. pingpong

    fyi:
    “Mit strategischem Denken durch die Polykrise?”
    https://oe1.orf.at/player/20231122/740077

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