Sozialwissenschaftliche Vernunft

Verstörtes Posthistoire

Ein Rezensionsessay zu »Gekränkte Freiheit« von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, beide an der Universität Basel, haben ein Buch vorgelegt, das ein beeindruckend breites Panorama kritischer Gesellschaftstheorien unserer »spätmodernen« Gegenwart mit einer erschreckend engstirnigen Anwendung auf die sogenannte »Querdenker«-Bewegung verbindet. Die Argumentation ist diesbezüglich durchgängig in hohem Grade tendenziös, und das analytische Potential der vorgestellten Theorien wird ausschließlich im Sinne einer Feindbilddefinition enggeführt. Insbesondere übersehen die Verfasser geflissentlich, dass sich ihr eigener Ansatz mit Leichtigkeit auch auf ihre eigene so beiläufig wie penetrant zugleich vorgetragene feministische Positionierung anwenden lässt. Dieser Widerspruch erweist sich jedoch als Schlüssel zum Verständnis ihrer Argumentation, insofern sie vor dem uneingestandenen Hintergrund eines »posthistorischen Bewusstseins« der Verfasser transparent wird, demzufolge die liberalen Gesellschaften des »Westens« keine grundsätzlichen Widersprüche mehr in sich bergen, die zu einem dialektischen Umschlag in eine neue Ordnung drängen würden. Das eklatante Auseinanderklaffen des Anspruchs und Potentials einer kritischen Gesellschaftstheorie einerseits und der Realität eines konformistischen hit piece andererseits lässt sich als Symptom einer Verstörung dieser posthistorischen Gewissheit verstehen.

Kritische Theorie: von der »Dialektik der Aufklärung« zur »regressiven Modernisierung«

Die grundlegende Idee aller Kritischen Theorie im Sinne der ideengeschichtlichen Schule dieses Namens dürfte in der berühmten Formel zum Ausdruck kommen, die sich auf den ersten Seiten der Dialektik der Aufklärung findet: »Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«1Horkheimer/Adorno 1989, S. 9

Bereits die Erfahrung des Ersten Weltkriegs hatte zur Verunsicherung eines linearen Fortschrittsoptimismus geführt und ein Buch wie Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« hervorgebracht. Für Spengler war »Zivilisation« nicht mehr der Gipfelpunkt einer Entwicklung, die von der Antike über das Mittelalter zur Neuzeit verläuft, sondern das Erstarrungs- und Todesstadium eines kulturellen Entwicklungszyklus, nach dem ein kultureller Organismus durch einen anderen abgelöst wird. »Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. (…) Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.«2Spengler 2003, S. 43

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs suchten Horkheimer und Adorno nach einer Erklärung dafür, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«3Horkheimer/Adorno 1989, S. 1 Damit diagnostizierten sie unter anderem auch das Scheitern der materialistischen Geschichtsphilosophie, die Hegels idealistischen Entwicklungsgedanken »vom Kopf auf die Füße« gestellt hatte. Der Entwicklungsgang des bürgerlichen Liberalismus hatte Hitler und das KZ ebenso hervorgebracht wie der marxistische Entwicklungsoptimismus Stalin und den Gulag. Sie sind davon überzeugt, dass das Denken der Aufklärung selbst »schon den Keim zu jenem Rückschritt«4Horkheimer/Adorno 1989, S. 3 enthält.

Daraus ergibt sich für kritische Gesellschaftsanalyse die methodische Forderung: »Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.«5Horkheimer/Adorno 1989, S. 3 Um diese Reflexion leisten zu können, sollte eine »fortwährende Durchdringung von Philosophie und Einzelwissenschaften«6Wiggershaus 1988, S. 51 angestrebt werden, darunter eine empirische Fundierung der Bewußtseinsphilosophie mittels einer kritischen Rezeption der Psychoanalyse.

Die marxistische Orthodoxie war demgegenüber nicht in der Lage, über die Politische Ökonomie hinaus Probleme der Psychologie und Kultur angemessen zu verarbeiten. In diesem Sinne entstanden die »Studien zum autoritären Charakter«7Adorno/Friedeburg 2018 als empirische sozialpsychologische Bestandsaufnahme der Dispositionen moderner Individuen, sich autoritärer Herrschaft zu unterwerfen. Ihr Ziel ist »Die Messung antidemokratischer Züge in der Charakterstruktur«, und sie münden in eine psychologische Charaktertypologie der »Vorurteilsvollen« und »Vorurteilsfreien«.

In diese sozialwissenschaftliche Schule ordnen sich Amlinger und Nachtwey mit ihrer Untersuchung ein – freilich mit dem Anspruch, die theoretischen Konzepte so zu modernisieren, dass sie sich für eine Gegenwartsdiagnose der »Spätmoderne« eignen. Denn selbstverständlich haben sich die westlichen Gesellschaften seit den 1940er Jahren, als die »Studien zum autoritären Charakter« durchgeführt wurden, weiterentwickelt. Die Verfasser zentrieren ihre Darstellung um die Idee des Individuums als dem Inbegriff des modernen Subjekts: »Ein Individuum zu sein – genauer gesagt: ein Individuum sein zu können – ist das große Versprechen moderner Gesellschaften.«8Amlinger/Nachtwey 2022, S. 57 Das Individuum hat sich von den externen Statuszuschreibungen der Ständegesellschaft emanzipiert und verlässt sich auf den persönlichen, vernünftigen Gebrauch seiner Freiheiten, das heißt, auf seine Kompetenz, die eigenen Fähigkeiten gemäß eigenem Urteil zur Mehrung und Steigerung seines eigenen Nutzens und Glücks zum Einsatz zu bringen.

Die Verfasser unterscheiden dabei drei Epochen der modernen Gesellschaft: die frühe, »liberal-bürgerliche« Moderne, das den auf Respektabilität und Konformität mit der eigenen Klasse strebenden Bürger hervorbringt, die »organisierte« Moderne der zwanziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die vom dominierenden Typus des »Angestellten« als eines außengeleiteten Individuums geprägt ist, und schließlich die »Spätmoderne«, die vom Aufstieg des »kreativen Selbstverwirklichers« geprägt ist.9Amlinger/Nachtwey 2022, S. 58 Insbesondere für den Typus des Angestellten hatten sich die »Studien zum autoritären Charakter« interessiert. Der »kreative Selbstverwirklicher« hat seither die Neigung zur Autoritätsunterwerfung abgestreift.

»Allerdings ist das Individuum der Gegenwart (…) abhängigkeitsvergessen und durch eine verdinglichte Freiheitsvorstellung geprägt, eine Freiheit, die gesellschaftliche Beziehungen verneint.«10Amlinger/Nachtwey 2022, S. 58 f.

In der Politischen Philosophie wurde ein solcher radikalisierter, »libertärer« Freiheitsbegriff von Robert Nozicks »Anarchy, State, and Utopia« (1974) ins Spiel gebracht. Nozick erneuerte die Forderung nach einem minimalistischen Staat, der legitimerweise nicht mehr tun dürfe, als das Individuum vor Gewalt, Betrug und Vertragsverletzungen zu schützen, darüber hinaus jedoch zu keinerlei Maßnahmen ermächtigt sei, die die Freiheit und das Eigentum des Einzelnen einschränken – insbesondere nicht zur Steuererhebung mit dem Ziel der Umverteilung.11Nozick 2013, S. XIX »Freiheit wird nun nicht mehr in erster Linie in Abgrenzung zum staatlichen Gewaltmonopol verstanden, sondern zu gesellschaftlichen Normen insgesamt.«12Amlinger/Nachtwey 2022, S. 89

Solche »radikalisierte(n) Ansprüche in Bezug auf individuelle Freiheitsräume«13Amlinger/Nachtwey 2022, S. 89 bezeichnen die Verfasser als verdinglichte Freiheit, wobei »Verdinglichung« als eine falsche Abstraktion verstanden wird, die das Reale auf das sinnlich Erfahrbare reduziert: die Abhängigkeit des Einzelnen von funktionierenden sozialen Beziehungen und Institutionen ist real, kann aber aus der Wahrnehmung in dem Maße verdrängt werden, in dem Egoismus und unbeschränkte persönliche Entscheidungen höchste Priorität genießen.

Entscheidend für die diagnostische These von der »verdinglichten Freiheit« ist nun, dass die liberale Kulturrevolution der »68er«-Epoche von einem gewandelten »Geist des Kapitalismus« in einer Konvergenz von marktliberalem und politisch liberalem Freiheitsbegriff erfolgreich vereinnahmt worden ist. Der hieraus resultierende »neue Geist des Kapitalismus«14Boltanski/Chiapello 2003 verbindet die Idee einer flexibleren und kreativeren Erwerbstätigkeit, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution ermöglicht wurde, mit einer höheren Bereitschaft zur Inkaufnahme sozialer Unsicherheit, höherer ideologischer Firmenbindung und geringerer politischer Verhandlungsmacht durch gewerkschaftliche Vertretung.

Zugespitzt formuliert konzentrieren sich die Vorzüge der Kreativjobs bei der neuen Mittelschicht und die Nachteile der höheren Unsicherheit beim neuen Niedriglohnsektor. Unter dem psychischem Stress, der mit dieser Dauermobilisierung im Selbstmanagement einhergeht, leiden sie jedoch alle, und im Resultat ist das unter solchen Bedingungen souveräne Selbst zugleich ein erschöpftes Selbst.15Ehrenberg 2008 Amlinger und Nachtwey sehen darin die strukturelle Quelle »gekränkter Freiheit«:

»Das heutige Individuum ist autonom, darin aber fragil; gebildet, aber strukturell überfordert; moralisch, aber normativ verunsichert; räsonierend, aber hochemotional. Gekränkte Freiheiten, das Thema dieses Buches, resultieren dabei aus dem Umstand, dass das Individuum gesteigerte Bedürfnisse entwickelt hat, seine Ansprüche in spätmodernen Gesellschaften jedoch nicht (oder nur gebrochen) realisieren kann.«16Amlinger/Nachtwey 2022, S. 95

Das Konzept der reflexiven Modernisierung hatte Ulrich Beck in seiner 1986 kurz nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erschienenen Schrift »Risikogesellschaft«17Beck 1986 entwickelt. Während die »einfache Modernisierung« darin besteht, dass vormoderne Traditionsbestände ebenso wie vormoderne Lebensrisiken durch Emanzipation und technischen Fortschritt sukzessive abgebaut werden, besteht die reflexive Modernisierung darin, dass Emanzipation und technischer Fortschritt nunmehr mit den Folgen und Konsequenzen dieser traditionsverzehrenden Modernisierung selbst konfrontiert sind und darauf reagieren müssen.

Nicht mehr Hungersnöte, Seuchen und ein primitiver Stand der Medizin bedrohen die Lebensführung der Menschen, sondern Umweltgifte, Katastrophen der Großtechnik wie Bhopal (Chemie) und Tschernobyl (Kernkraft), Naturzerstörung, Artensterben und inzwischen ein vom Menschen verursachter Klimawandel. Es handelt sich um Risiken, die vom Modernisierungsprozess selbst hervorgebracht worden sind und die mittlerweile unter dem Begriff des »Anthropozäns« zusammengefasst werden, als Name eines neuen Erdzeitalters, in dem die Gattung Homo Sapiens selbst als planetare Naturgewalt und als eigenständiger Faktor der Evolution auftritt.18Glaubrecht 2019

Mit der in immer höherem Maße wissenschaftsbasierten Technik wird auch die Wissenschaft selbst widerspruchsvoll, weil sie »Ursache, Definitionsmedium und Lösungsquelle von Risiken«19Beck 1986, S. 254, Herv. i. O. zugleich ist. Parallel dazu kommt es Beck zufolge auch zu einer »Entgrenzung der Politik«:

»Wo die Konturen einer anderen Gesellschaft nicht mehr aus den Debatten des Parlamentes oder den Entscheidungen der Exekutive, sondern aus der Umsetzung von Mikroelektronik, Reaktortechnologie und Humangenetik erwartet werden, zerbrechen die Konstruktionen, die den Modernisierungsprozeß bislang politisch neutralisiert haben.«20Beck 1986, S. 304

Je stärker politisch gestaltete (oder eben nicht gestaltete, sondern den Technologiekonzernen überlassene) Technologie in das menschliche Leben eingreift – sehr buchstäblich, sobald es um Medizin und Biotechnologie geht – desto weniger Bereiche des Lebens können als unpolitisch gelten. Wie und unter welchen Umständen kann nun nach Ansicht von Amlinger und Nachtwey diese reflexive, auf sich selbst und ihre eigenen Konsequenzen verwiesene Modernisierung zu einer regressiven Modernisierung werden?

Das betrifft erstens die widersprüchliche Dynamik der kapitalistischen Entwicklung als solche, die beispielsweise im Prozess der Globalisierung nationale Einkommensscheren vergrößert und die Klassenspaltung vertieft und damit die Tendenz der Nachkriegsjahrzehnte zur »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« wieder umkehrt.

Zweitens erschöpft sich zunehmende Wahlfreiheit in trivialen Alternativen und wachsender Entscheidungsunsicherheit, die das Individuum zugleich frustrieren und überfordern. Optimistische Zukunftserwartungen kehren sich in pessimistische oder verunsicherte Perspektiven um.

Drittens wird das zivilgesellschaftliche Leben umso konflikthafter, je mehr es die Beteiligten aufgrund der Verengung und Schließung von Gelegenheitsfenstern sowie der Verknappung öffentlicher und privater Budgets als Nullsummenspiel erfahren. Hierbei spielen auch Inklusion und Exklusion in gesellschaftlichen Anerkennungsbeziehungen eine zunehmende Rolle, indem die kollektive Zuschreibung von Progressivität und Regressivität selbst zum Gegenstand von öffentlichen Deutungskämpfen wird, in denen es um Prozesse kultureller Aufwertung und Abwertung geht.

Und dies ist nun genau der Punkt, an dem die Argumentation von Amlinger und Nachtwey in der Art, wie sie konkret durchgeführt wird, an ihre Grenzen stößt, weshalb wir genauer auf sie eingehen müssen.

Es fällt nämlich auf, dass die Verfasser ihre Bestimmung konkreter »progressiver« und »regressiver« Standpunkte nicht eigens qualifizieren, sondern als selbstverständlich voraussetzen. Am auffälligsten ist das hinsichtlich ihrer eigenen Verwendung gegenderter Sprache, die sie an keiner Stelle des Buches in irgendeiner Weise begründen, so wie sie auch ihre Wahl einer bestimmten Form des Genderns, nämlich z. B. »Expert:innen« statt »ExpertInnen« oder »Expert_innen« oder anderer Varianten nicht erläutern. Das als persönliche Stilpräferenz gelten zu lassen, wird schon dadurch unterbunden, dass die Praxis des Genderns selbst einer Gerechtigkeitsnorm unterliegt, nämlich einer wie auch immer definierten »Geschlechtergerechtigkeit«.

Darüber hinaus erweist es sich im Kontext anderer Stellungnahmen auch als systematisches Problem. Als exemplarisch kann folgende Aussage der Verfasser gelten: »Der gesellschaftliche Normwandel ist zwar progressiv, führt aber zu aversiven Reaktionen und neuen Konflikten.«21Amlinger/Nachtwey 2022, S. 103 Amlinger und Nachtwey präsentieren weder hier noch bei anderen Gelegenheiten irgendein Kriterium dafür, warum sie die Beispiele, die sie für »progressiven Normwandel« anführen, für »progressiv« halten. Dieses Versäumnis erweist sich als schwerwiegend, da man zumindest einige ihrer Beispiele mit ihren eigenen theoretischen Mitteln auch als regressiven Normwandel ausweisen kann. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieser Einwand insbesondere für die feministische Positionierung von Amlinger und Nachtwey geltend gemacht werden kann.

Die Geburt des Feminismus aus dem Geiste des Grolls

Im vierten Kapitel des Buches, »Soziale Kränkung«, präsentieren die Verfasser eine »Phänomenologie aversiver Gefühle«. In der Art, wie diese Gefühle vom Subjekt verarbeitet werden, kommt es zu einer »Verdinglichung«. Diese Gefühle sind eigentlich sozial, weil sie innerhalb sozialer Beziehungen entstehen – diese Quelle bleibt für das Subjekt jedoch im Vorbewußten und dadurch unkenntlich.

Was seine Ursache ursprünglich außerhalb des Selbst hatte, wird zu einem verselbständigten System. Die Spuren des Sozialen werden gelöscht, das Individuum selbst erscheint als Generator unglücklicher Zustände.«22Amlinger/Nachtwey 2022, S. 137

Als Beispiel für solche aversiven Gefühle nennen die Verfasser die Scham, den Zorn, das Ressentiment und den Groll. Im folgenden konzentriere ich mich auf das Beispiel des Grolls.

»Der Grollende blickt, so der Psychoanalytiker Heinz Weiß, ›in vorwurfsvoller Weise von unten nach oben‹; er identifiziert ein Unrecht und verlangt nach Wiedergutmachung. Die innere Verletzung wird auch im Grollen projektiv auf ein Gegenüber übertragen, dem die Schuld daran zugeschrieben wird. Darum wohnt dem Grollen eine Tendenz zur Spaltung zwischen Opfer und Täter inne. Während der anklagende Blick das Gegenüber mit der Handlungsmacht ausstattet, zu verletzen und Schaden zuzufügen, konstituiert man sich selbst als leidendes Objekt. Im Grollen entpuppt sich ein zutiefst unheilvoller Zustand der Welt, der nicht anders artikuliert werden kann – und nach Gerechtigkeit verlangt. (…) Als Erregungszustand unterzieht das Grollen Situationen einer moralischen Bewertung, um in ihnen bestehen zu können: Das murrende Artikulieren der eigenen Ohnmacht verurteilt den Verursacher und kehrt die asymmetrische Beziehung um. Die Opferrhetorik ist oft mit ›Sinnbezügen‹ durchsetzt, die das Geschehen in ein übergeordnetes Bedeutungssystem einordnen, um das erfahrene Unrecht post festum mit Relevanz zu versehen. Der emotionalen Struktur des Grollens wohnt oft etwas Selbstbezügliches inne: ›Die Betroffenen demonstrieren ihre Einzigartigkeit nicht durch äußerliche Grandiosität, sondern durch die Ungeheuerlichkeit ihres Verwundetseins‹, beobachtete der Psychotherapeut Reinhard Haller in Gesprächen mit seinen Patient:innen.«23Amlinger/Nachtwey 2022, S. 139 f.

Meine These lautet nun, dass wir diese Phänomenologie des Grolls mit Leichtigkeit auf diejenige soziale Bewegung anwenden können, die heute geläufigerweise mit dem Begriff des »Feminismus« assoziiert wird: die sogenannte »Neue Frauenbewegung«, die seit den 1960er Jahren entstanden ist, die frühere »bürgerliche« und »proletarische« Frauenbewegung beerbt und abgelöst und ihrerseits weltweite Resonanz gefunden hat und darum auch als »zweite Welle« der Frauenbewegung bezeichnet wird. Diese Bewegung reicht mit ihren Transformationen und generationsspezifischen Reprisen, die als »dritte« und »vierte Welle« bezeichnet werden, bis in unsere Gegenwart. Sie ist durch eine tiefe Ambivalenz und Verschränkung »progressiver« und »regressiver« Momente gekennzeichnet, die sie zu einem exemplarischen Fall für die Anwendung der von Amlinger und Nachtwey vorgelegten Kritischen Theorie der Spätmoderne machen – freilich ohne dass Amlinger und Nachtwey dies auffällt.

Dass im Feminismus der Neuen Frauenbewegung mit einem tief sitzenden Irrationalismus zu rechnen ist, ist schon vor einem Vierteljahrhundert Gerd Koenen in Bezug auf den ursprünglichen Radikalfeminismus aufgefallen:

»In den feministischen Fundamentalschriften wurde die Totalkritik des Kapitalismus durch eine noch totalere Kritik des Patriarchats überlagert und schließlich ganz ersetzt. Die dialektische Widersprüchlichkeit des historischen und gesellschaftlichen Prozesses wurde abgelöst von einem erdrückend monokausalen, ein-eindeutigen Bild der Welt und der Geschichte, worin nichts mehr regierte als die blanke physische oder die versteckte psychische Gewalt des global herrschenden Geschlechts. (…) In diesem permanenten, völlig einseitigen Krieg der Geschlechter bildeten ›Männer und Frauen zwei Nationen auf einem Boden‹. Eine ›patriarchalische Weltzivilisation‹ war seit zwei Jahrtausenden dabei, die ursprünglicheren, dem Leben und der Natur zugewandten weiblichen Kulturen zu unterdrücken und notfalls auszurotten. (…) Nahm man diese Theorien beim Wort, waren sie womöglich noch hermetischer und totaler, um nicht zu sagen: totalitärer, als es jede noch so radikale Rassen-, Klassen- oder Imperialismustheorie hätte sein können. Wo nichts als Gewalt, Rohheit, Mißbrauch, allenfalls Verführung herrschte, da hätten wohl die extremsten Maßregeln geboten und gerechtfertigt sein müssen. Valerie Solanas ›Manifest zur Vernichtung der Männer‹ hatte das zumindest provokativ ausgesprochen. Aber mehr als ein Bestseller war das natürlich nicht, verstärkt allenfalls durch die expressive Kunstgeste eines Attentates – ausgerechnet auf Andy Warhol, das pure Negativ eines Mannes.«24Koenen 2001, S. 246 f.

Es ist das Muster einer solchen überschießenden, mit »Groll« überladenen Kritik, das der Erklärung bedarf. Wenngleich die feministische Theorieproduktion vor allem aufgrund ihrer sehr erfolgreichen akademischen Institutionalisierung heute erheblich differenzierter ist, lassen sich die von Amlinger und Nachtwey aufgezählten Merkmale des »Grolls« problemlos auch in der aktuellen feministischen Publizistik auffinden. Auch heute finden wir feministische Aussagen, die in ihrer gnostischen Feindseligkeit gegen und ihrer eindeutigen Schuldzuweisung an »den Mann« von faschistischen Feindbildern kaum zu unterscheiden sind: wenn eine Journalistin des »Guardian«, Julie Bindel, sich (in einem Interview mit dem Radfem Collective im Jahr 2015) zu der Formulierung versteigen kann: »And I am sick of hearing from individual women that their men are all right«25An Interview with Julie Bindel, dann ist das im Grad der Verriegelung des eigenen Feindbilds gegen empirische Einwände nicht mehr zu unterscheiden von der Aussage Heinrich Himmlers in der ersten Posener Rede: »Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden.«26Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943 Hier geht es um eine radikale Empathieverweigerung nicht nur im Sinne eines »nicht Hinsehens«, sondern im Sinne einer gewollten, aktiven Unterdrückung von Empathie gegen ihr spontanes Auftreten.

In einer anderen Aussage, die von österreichischen Sozialwissenschaftlerinnen(!) im Jahre 2019 ausgerechnet in einem Sammelband über Frauenhass getätigt wird, müsste man nur wenige Begriffe austauschen, um bei der Behauptung von der »jüdischen Weltverschwörung« zu landen, von der noch der armseligste ostjüdische Hausierer profitiere:

»Der ›Kulturkreis‹ der toxischen Männlichkeit ist weltumspannend, transnational und transreligiös und umfasst Männer aus christlich-fundamentalistischen Kreisen in den USA ebenso wie Taliban oder weiße deutsche Atheisten aus Berlin und Göttingen, die finden, ohne sie drehe sich die Welt nicht weiter. Die Macker-Internationale ist vermutlich das umfassendste und allgemeingültigste kulturelle Gebilde, das wir kennen. (…) Egal wie elendig eine männliche Existenz ist, sie ist doch immer noch männlich und hat damit … ihre immanente Bedeutung zwischen den Beinen hängen, und da ist es egal, welche Hautfarbe die Beine haben und welchen Pass die zum Körper gehörige Person.«27Berg/Goetz/Sanders 2019, S. 36 f.

Wenn es je einen »strukturellen Antisemitismus« gab, dann liegt er hier vor: das feministische Bild des Mannes wird hier zu einem »kulturellen Code«28Volkov 2000, mit dem als negativ erfahrene Merkmale der modernen Gesellschaft symbolisiert werden. Das ist strukturell analog zum Antisemitismus in seiner Entstehungsphase am Ende des 19. Jahrhunderts: so, wie Heinrich von Treitschke damals formulieren konnte: »Die Juden sind unser Unglück!«, so wird heute ein negativ stereotypisierter »Mann« (unter Einschluss der Giftmetapher des »Toxischen«) als die Quelle gesellschaftlichen Unglücks identifiziert.

Auch andere von Amlinger und Nachtwey aufgezählte Merkmale des Grolls lassen sich problemlos identifizieren: Die »Ungeheuerlichkeit des eigenen Verwundetseins« und die »Selbstkonstitution als leidendes Subjekt« wird uns beispielsweise im Kontext des Twitter-Hashtags #menaretrash von Veronika Kracher höchst plakativ beschrieben:

»Frauen machen diese Erfahrung tagtäglich, und sie geht weit über die bloße Kränkung durch einen Hashtag-Trend hinaus, sondern manifestiert sich ganz real auf ökonomischer, sexueller, ideologischer, gesellschaftlicher Ebene, kurz: Sie ist allumfassend und totalitär. (…) Aber Frauen machen diese Erfahrung tagtäglich, auf der Straße, im Internet, im Beruf und im Zwischenmenschlichen. Sie werden tagtäglich von Männern zu bloßen Objekten gemacht. Würden jene Männer, die sich von einem Hashtag so verletzt fühlen, auch nur einen einzigen Tag jene Zurichtungen erleben, die Frauen von klein auf konditioniert sind zu ertragen, würden sie vermutlich zusammenbrechen.«29Veronika Kracher, »Recycelter Sexismus«, in Jungle World 33, 2018

Der Blogger Lucas Schoppe hat treffend erläutert, auf welche Weise hier das Prinzip der demokratischen politischen Vermittlung zerstört wird:

»Angesichts des von Kracher imaginierten unendlichen, von Männern verursachten Leids der Frauen gibt es faktisch keine Äußerung über Männer, die daneben nicht irgendwie legitim erscheinen würde. Das ist ein wichtiger Punkt. Hier bricht damit nämlich eine Sphäre des Absoluten und Unendlichen in den notwendig endlichen und relativen Bereich politischer Vermittlung ein. Das entspricht in seiner Struktur seltsam genau dem Offenbarungsdenken in der lutherischen Theologie: Das Absolute kann nicht vernünftig erschlossen, sondern nur geglaubt und zugelassen werden, weil die Vernunft notwendig an eine täuschende Welt gebunden wäre. Die männliche Gewalt und das weibliche Leid wiederum können eben gerade deshalb als unendlich erscheinen, weil Krachers Darstellung durch keine Seitenblicke auf soziale Realitäten begrenzt wird.«30Lucas Schoppe, »#MenAreTrash und der Abschied vom Politischen«

Einen »zutiefst unheilvollen Zustand der Welt« beschreibt uns Anne Wizorek: »Das Patriarchat umgibt uns förmlich wie die Matrix aus dem gleichnamigen Film.«31Wizorek 2014, S. 23

Die jedem anderen Leiden inkommensurable Ungeheuerlichkeit des gefühlten Unterdrücktseins spricht auch aus den Texten von Laurie Penny, wenn sie etwa schreibt:

»Wie jede unterdrückte Klasse lernen Frauen, den eigenen Zorn zu fürchten. Unser Zorn ist furchterregend, und das hat seinen Grund. Wir wissen, wenn er sich je Bahn brechen sollte, werden wir womöglich verletzt oder, schlimmer noch, verlassen – ein zuverlässiges Maß für soziale Privilegiertheit ist, wie viel Zorn man äußern kann, ohne einen Rauswurf, Verhaftung oder soziale Ächtung fürchten zu müssen. Deshalb schlucken wir unseren Zorn hinunter, bis er wie verdorbenes Essen in uns gärt und uns krank macht.«32Penny 2015, S. 9

Zitate dieser Art lassen sich problemlos vervielfachen. Und in jedem anderen Kontext als dem feministischen würden Aussagen wie die oben zitierten als »Hassrede« und/oder »Verschwörungsmythologie« identifiziert. Es ist offensichtlich, dass hier ein individuell empfundenes Leiden unmittelbar auf imaginierte Strukturen, nämlich auf eine fiktive Psychostruktur »des Mannes« und eine fiktive Sozialstruktur »des Patriarchats« projiziert wird. Und es handelt sich auch nicht um Fossilien aus den wilden 70er Jahren des letzten Jahrhunderts: die feministische Textproduktion der Gegenwart ist voll von dergleichen. Wenn Amlinger und Nachtwey Sätze wie die folgenden formulieren, fragt man sich, wie sie nicht zumindest auch den breiten Strom der feministischen Publizistik der vergangenen dreißig oder vierzig Jahre damit meinen können:

»Ein amorpher und zutiefst beunruhigender Gefühlszustand wird so klarer greifbar. Verarbeitet wird hier die wahrgenommene Ohnmacht, aus der sich der Grollende herauszuwinden versucht, indem er durch die Identifizierung eines Schuldigen diesen sogleich kontrolliert. Deutlich wird an dieser Stelle, warum dem Grollen strukturell eine Skepsis gegenüber Ambiguitäten innewohnt, greifen diese doch die Eindeutigkeit der Schuldzuweisung und damit die eigene Selbstbehauptung an. In seiner Steigerungslogik kann das Grollen wahnhafte Züge annehmen, im Extremfall zu einer ›Vorstufe des paranoiden Hasses‹ anwachsen. Die Welt wird dann durch das polare Raster des Grolls gelesen, sie ist gespalten in Mächtige und Ohnmächtige. Gegen dieses Unrecht richtet sich die Wut, die Empörung kanalisiert sich im Protest. Solche Gefühle aktivieren zum politischen Handeln – allerdings auch aus einem autoritären Impuls heraus.«33Amlinger/Nachtwey 2022, S. 141

Ein autoritärer Impuls im Feminismus wird greifbar beispielsweise im Umgang mit der Gefahr sexueller Übergriffe unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, wie sie in amerikanischen Bildungseinrichtungen zu handhaben versucht wird. Die Kommunikation zwischen männlichen und weiblichen potenziellen Sexualpartnern tendiert auch nach Jahrzehnten der feministischen Emanzipationsbewegung dazu, asymmetrisch zu bleiben. Die asymmetrische Codierung der Geschlechterkommunikation, in der der Mann das aktive und begehrende, die Frau das passive und begehrte Subjekt ist, erlischt auch im Zeitalter einer durchgesetzten Frauenemanzipation nicht, weil sich Frauen darin als »wertgesteigert« erleben können, gleichsam als eine Art »Prämie«, die an sich wohlverhaltende Männer ausgereicht wird, weshalb sie daran beteiligt sind, dieses Verhaltensmuster regelmäßig reproduzieren.

Die Verantwortung für ein gemeinsames Risikoverhalten (das Sich-Einlassen auf potenziell enttäuschende Erfahrungen miteinander) wird in amerikanischen Campusregeln dabei wie in der traditionellen Geschlechterordnung einseitig dem Mann übertragen, die nur ihn für »bereuten Sex« unter Alkoholeinfluss bestrafen, aber nicht die Frau. Was unter »patriarchalen« Randbedingungen als Selbstverständlichkeit galt: dass die Frau sich in einem vom Mann überwachten häuslichen Schutzraum befindet, der ihr Verhalten zugleich einschränkt, wird nun mit paradoxem Effekt auf eine individualistische und im Zeichen der sexuellen Befreiung auch libertinistische Öffentlichkeit übertragen.

Männer, die sich hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse als »moderne«, egoistische Individuen verhalten, können nun auf Frauen treffen, die mit einer Erwartung von traditioneller Galanterie und Rücksichtnahme in den öffentlichen Raum gehen (aber auch umgekehrt). Auch hier wird im Sinne von Amlinger und Nachtwey »die Vergesellschaftung in das Individuum verlegt« 34S. 181: die sexuellen Bedürfnisse der Frau werden durch kein »patriarchales« (eigentlich bürgerlich-traditionelles) Rollenschema mehr eingeengt, weshalb sie jedoch auch die im öffentlichen Raum erforderlichen Selbstschutz- und Selbstbehauptungsleistungen eigenständig erbringen müssen.

Charakteristisch an den feministischen Beschwerden ist gerade in diesem Zusammenhang, dass sie über den ohnehin justiziablen Bereich sexueller Übergriffe weit hinausgehen: in einer individualisierten und egoistischen Kultur sexueller Selbstverwirklichung kann die »Sexualisierung« und »Objektifizierung«, das heißt der Modus des Begehrtwerdens, als Überlastung empfunden werden. Was jedoch das Resultat eines modernen (also eben nicht »patriarchalen«) gesellschaftlichen Verhältnisses ist, wird einer vermeintlichen »toxischen Männlichkeit« und einem vermeintlichen »Patriarchat« zugeschrieben, während die Artikulation von Erfahrungen einer von derselben individualistischen und egoistischen Kultur hervorgebrachten »toxischen Weiblichkeit« tabuisiert wird.

Augenfällig symbolisiert wird das auch in den sogenannten slut walks, die die Ambivalenz des Begehrtwerdens im öffentlichen Raum zum Ausdruck bringen. Regressiv ist dies darum, weil zur Behebung des Problems der Staat zur autoritären Verhaltenskontrolle aufgerufen wird. Insbesondere an Universitäten als Räumen, in denen junge Menschen sich einerseits erstmals frei begegnen und andererseits ein ausgeglichenes Verhältnis zu sexuellen Interaktionen erst finden müssen, hat dies vor allem in den USA zu einer Campus Rape Frenzy35Johnson/Taylor 2017 geführt, die vielfach in Systemen von verfassungswidriger Paralleljustiz rigide und einseitig »verrechtlicht« worden ist.

Dem Feminismus der Neuen Frauenbewegung ist somit eine überschießende Kritik eigentümlich, der »strukturell« nicht Genüge getan werden kann. Sie enthält eine Steigerungslogik, der zufolge es zu jedem beliebigen historischen Zeitpunkt zu wenig feministische Errungenschaften in der Gesellschaft gibt. Jede feministische Generation entdeckt die »Ungeheuerlichkeit des eigenen Verwundetseins« neu, und stets werden alle Versuche, sie relativ zu anderen Defiziten des sozialen Lebens einzuordnen (insbesondere zu solchen, unter denen spezifisch Männer zu leiden haben), als Versuch attackiert, »Frauen zu unterdrücken«, »mundtot zu machen«, »unsichtbar zu machen« – es wird also eine klare »Spaltung in Opfer und Täter«, in »Mächtige und Ohnmächtige« vorgenommen.

Augenfällig ist dies beispielsweise an den immer neuen Varianten des sprachlichen Genderns – keine Form wird auf Dauer für befriedigend gehalten – oder an den Bestrebungen, immer neuen rechtlichen »Diskriminierungsschutz« einzuführen, als ob man auch Jahrzehnte nach Beginn dieses Projekts immer noch an der Startlinie stünde. »Strukturell« nicht zufriedenzustellen ist diese Kritik darum, weil der Versuch, die explanatorische Passung eines ideologisch imaginierten »Patriarchats« auf eine funktional differenzierte Gesellschaft herzustellen, nicht aufgehen kann und unausweichlich Inkongruenzen aufweist, womit der Kampf gegen »das Patriarchat« illusionär bleibt und der Misserfolg vorprogrammiert ist. Die Lücke zwischen Aspiration und Realität kann niemals geschlossen werden. Die Gründe hierfür sind historischer Natur.

Die bürgerliche Gesellschaft hatte erstmals ein klassenspezifisches System weiblicher Privilegien installiert: die Möglichkeit, sich lebenslang ohne »entfremdende« Arbeit versorgen zu lassen, sich der Bildung, der Erziehung und der Kultur zu widmen, und schließlich die Zuschreibung, im Gegensatz zum Mann das »moralische Geschlecht« zu verkörpern, dem ein nicht-entfremdeter Bereich der bürgerlichen Kultur zur Wahrung anempfohlen war.36Kucklick 2008 Solange aber diese Privilegien mit handfesten Nachteilen wie Einschränkungen der Berufswahl und der politischen Betätigung, der Festlegung auf Hausarbeit, dem fortgesetzten Verhängnischarakter der Schwangerschaft und Einschränkungen der sexuellen Freiheit einhergingen, blieb der privilegierte Aspekt der bürgerlichen Frauenrolle latent.

Je mehr jedoch der Fortschritt der rechtlichen Frauenemanzipation, der Hauswirtschaftstechnik und schließlich auch der medizinischen Verhütungstechnik diese Nachteile abbaute, desto höheres Gewicht erlangte das weibliche Privilegiensystem. Dieser Wandel war unproblematisch für Frauen, die eine klare persönliche Entscheidung zugunsten des Rollenmodells entweder der »Karrierefrau« oder der »Hausfrau« fällen konnten. Frauen, die zwischen beiden Rollenmodellen ambivalent blieben, befanden sich fortan in einem Feld unaufhebbarer Widersprüche und Spannungen. Und nachdem in der Epoche des Massenwohlstands auch immer mehr frühere Arbeiterhaushalte ins (Klein-)Bürgertum aufstiegen, wurde diese Konstellation der Spannungen auch zahlenmäßig immer bedeutender.

Ideologische Sprengkraft entwickelte die Deutung dieser Konstellation, als sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Zivilisations- und Aufklärungsskepsis zusammenschließen konnte, die zu dieser Zeit unter prominentem Einfluß der älteren Kritischen Theorie von der »rechten« auf die »linke« Seite des politischen Spektrums zu wechseln begann – die »Dialektik der Aufklärung« ließ sich fortan auch feministisch interpretieren. Der kulturelle Auftrag der bürgerlichen Rollenkonstellation an die Frau, das »moralische Geschlecht« zu verkörpern, sprengte nun die Bindung an die häuslich-familiäre Rolle und verwandelte sich von einem privaten zu einem öffentlichen und politischen Mandat.

Parallel dazu erfolgte eine ideologische Aneignung der universalgeschichtlichen Tiefe als »Frauengeschichte« und hieraus die Ableitung eines weltgeschichtlichen Erlösungsauftrags, der in die Form eines politisch-religiösen Gründungsmythos vom »Sturz des Patriarchats« gefasst wurde. Im Resultat hat die Neue Frauenbewegung eine politische Religion installiert, die auf einer Sakralisierung des Weiblichen und einer Dämonisierung des Männlichen beruht und nun in dem permanenten Konflikt steht, dass das sakrale Weibliche im gesellschaftlichen Alltag unausweichlich einer Profanierung ausgesetzt ist. Das ist die systematische, »strukturelle« Quelle des feministischen Grolls. Dieser Groll ist auch durch sozialwissenschaftliche Einsichten nur schwer zu beheben – tatsächlich ist umgekehrt ein erheblicher Teil der sich als feministisch verstehenden Sozialwissenschaft selbst von politischer Religion imprägniert.

Wer nun erwartet, dass aufgrund ihrer theoretischen Vorarbeiten sich Überlegungen wie die obigen bei Amlinger und Nachtwey finden, wird enttäuscht. Ihre Positionierung zu geläufigen feministischen Thesen entbehrt jeglicher kritischen Distanz. Nehmen wir zum Beispiel die folgenden Aussagen:

»Nehmen wir die gewachsene (allerdings längst nicht hinreichende) Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Zwar gibt es weiterhin eine gläserne Decke, viele Diskriminierungen sind jedoch schwächer geworden oder stehen zumindest unter Rechtfertigungsdruck. Führungsgremien ohne Frauen wirken aus der Zeit gefallen, Unternehmen geraten in Erklärungsnot, wenn sie weibliche Angestellte schlechter bezahlen (obwohl der Gender Pay Gap gesamtwirtschaftlich groß bleibt).«37Amlinger/Nachtwey 2022, S. 101 f.

Diese Behauptungen werden ohne weitere Begründung beiläufig vorgebracht. Sowohl die »gläserne Decke« als auch der »Gender Pay Gap« lassen sich jedoch dahingehend in Frage stellen, ob sich in ihnen tatsächlich Diskriminierungen oder aber geschlechtsspezifische Präferenzen der Berufswahl ausdrücken, und es werden auch keine Kriterien genannt, um zu bestimmen, warum die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen auch sechzig Jahre nach dem Erscheinen von Betty Friedans »Weiblichkeitswahn« (als einem Startschuss der Neuen Frauenbewegung) »längst nicht hinreichend« sein soll. Nicht einmal angedeutet wird außerdem die Frage, ob nicht auch komplementäre Benachteiligungen und Diskriminierungen bestehen, von denen spezifisch Männer betroffen sind, wodurch sich das Problem der »Geschlechtergerechtigkeit« auf andere Weise als nur bezüglich des »Kampfs gegen Frauendiskriminierung« stellen würde.

Auf dieselbe Weise verfahren Amlinger und Nachtwey in Bezug auf den Normkonflikt um »gendersensible Sprachkonventionen«. Dieser Normkonflikt wird nicht nur als »soziale Tatsache« konstatiert, sondern die Verfasser wählen mit den Attributen »gendergerecht« und »gendersensibel« ein wertendes Vokabular, das den Anspruch der betreffenden Sprachregelungen zum Nennwert nimmt: warum solche Sprachkonventionen als »gerecht« und »sensibel« sollten gewertet werden können, wird dem Leser nicht dargelegt:

»Der gegenwärtige Konflikt um gendergerechte Sprache kann in diesem Sinne als ein Konflikt zwischen Fortschritt und Freiheit interpretiert werden. Gendersensible Konventionen zielen auf Inklusivität, sie werden aber von vormals Etablierten als Einschränkung ihrer Freiheit wahrgenommen. Teilweise ist die Praxis der gleichberechtigten Sprache tatsächlich exkludierend; diejenigen, die die neuen Normen noch nicht verinnerlicht haben, werden gerügt und moralisch abgewertet.«38Amlinger/Nachtwey 2022, S. 160

Hier ist die Unterstellung eines Machtgefälles auffällig: unterstellt wird eine Korrelation von »vormals etabliert« und »Wahrnehmung einer Freiheitseinschränkung«, das heißt: die Kompensation eines Statusverlusts. Ausgeschlossen wird auf diese Weise die Möglichkeit, dass es »vormals« wie aktuell Unterprivilegierte sein könnten, die an der Gendersprache als einer bildungsbürgerlichen Bevormundung leiden – dass es sich bei der »gendergerechten Sprache« mithin um eine kulturelle Distinktionsstrategie bildungsbürgerlicher Aufsteiger handeln könnte. Auch Amlinger und Nachtwey verwenden ein »stolperndes«, unterbrechendes Gendern: anders als die Höflichkeits-Berücksichtigung des Geschlechts (»Liebe Kolleginnen und Kollegen«) und der Gebrauch des generischen Femininums, das den Lesefluss eines Textes nicht stört, erzwingen die Formen des »stolpernden« Genderns eine mentale Unterbrechung und einen unvermittelten Kontextwechsel: der Leser wird genötigt, der »Situation der Frau« wie einem Gessler-Hut Reverenz zu erweisen, bevor er im tatsächlichen Thema des Textes fortfahren kann.

Hierbei handelt es sich nicht um einen natürlichen Sprachwandel: ein solcher würde keine Gesetze der sprachlichen Ökonomie verletzten, da die Sprache ein routinemäßig zu gebrauchendes Mittel und, von bestimmten Formen der Lyrik abgesehen, nicht den Selbstzweck darstellt. Es handelt sich stattdessen um ein akademisches Heischen um Aufmerksamkeit durch die Erfinder dieser Sprachformen. Zudem weist der Akt des Unterbrechens des Lese- oder auch Redeflusses selbst das Merkmal eines Ticks, einer neurotischen Zwangsstörung auf. Der Zwang zum sprachlichen Gendern ist in seinem Ritualismus insofern selbst Merkmal einer neurotischen Kultur. Er gewährt narzisstische Anerkennung, ist aber sonst in keiner Weise produktiv und will sich selbst auch nicht mit einer ästhetischen Funktion begnügen, um womöglich als Ornament durchzugehen: sein Anspruch ist moralisch, nicht ästhetisch. Ein Ansatzpunkt, um die »gendersensible« Sprache als regressiv zu werten, besteht folglich darin, dass man darin einen Rückfall in magisches Denken und eine neurotische Symptomverschiebung sehen kann, als eine Art Voodoo, bei dem man Nadeln in die Sprache sticht, um damit ein imaginiertes »Patriarchat« zu töten.

Die hier von den Verfassern vorgenommene Wertung hat aber unmittelbaren Einfluss darauf, was sie als Sozialpathologie bestimmen. Das »Regressive« wird gleichsam differentialdiagnostisch von einem »Progressiven« her bestimmt, das mit den eigenen Wertsetzungen der Verfasser identisch ist. Diesen Mangel an Differenzierung zwischen Deskription und Wertung müssen wir nun systematisch untersuchen.

Kritische Theorie ohne Habermas

Die nun folgenden etwas sperrigen Erläuterungen sind notwendig, um das methodologische Versagen von Amlinger und Nachtwey in seiner Tiefe ermessen und an der Wurzel fassen zu können. Ich greife darin einen Argumentationsstrang Kritischer Theorie auf, dessen Existenz die »kritisch-theoretischen« Verfasser von »Gekränkte Freiheit« offensichtlich und komfortablerweise vergessen haben: Jürgen Habermas’ Konzept der kommunikativen Rationalität.

Kommunikative Rationalität und demokratische Öffentlichkeit

Ich kann gekränkt sein, aber dennoch Recht haben. Ersteres bezieht sich auf meine (sozial)psychologisch rekonstruierbare Motivation, letzteres auf die von mir erhobenen Geltungsansprüche. Der Rezensent bekennt freimütig, sich durch die die Vorgehensweise von Amlinger und Nachtwey in seiner Ehre als studierter Soziologe gekränkt zu fühlen (auch wenn er keinen mit diesem Fach verbundenen Beruf ausübt) und sich unter anderem dadurch zu dieser Rezension veranlasst gesehen zu haben (ein anderer Teil meiner Motivation besteht darin, Menschen in meinem persönlichen Umfeld, die der Querdenker-Bewegung nahestehen, vor solcher Soziologie, wie sie von den Verfassern betrieben wird, in Schutz zu nehmen).

Ich erhebe jedoch den Geltungsanspruch, dass die Argumentation von Amlinger und Nachtwey unzulänglich und selbstwidersprüchlich ist und ihren Gegenstand in einem Grade unfair behandelt, der an Unaufrichtigkeit grenzt. Der rationalen argumentativen Einlösung dieses Geltungsanspruchs dient der vorliegende Rezensionsessay. Ein Geltungsanspruch ist also die inhaltliche und logische Ebene einer Aussage (beziehungsweise Sprechhandlung) im Unterschied zur Ebene der psychischen Motivation zu dieser Aussage (beziehungsweise Sprechhandlung). Auf Geltungsansprüche bezogene Kommunikation hat eine eigene Rationalität. Zum einen dient sie als Kriterium für die Beurteilung der Rationalität von Personen:

»Die Rationalität einer Person bemißt sich daran, daß diese sich rational äußert und für ihre Äußerungen in reflexiver Einstellung Rechenschaft ablegen kann. Eine Person äußert sich rational, soweit sie sich performativ an Geltungsansprüchen orientiert; wir sagen, daß sie sich nicht nur rational verhält, sondern selber rational ist, wenn sie für ihre Orientierung an Geltungsansprüchen Rede und Antwort stehen kann. Diese Art von Rationalität nennen wir auch Zurechnungsfähigkeit39Habermas 2004, S. 105

Zum anderen dient auf Geltungsansprüche bezogene Kommunikation als Kriterium für die rationale Qualität von sozialen Beziehungen und gemeinsamen Weltbeziehungen:

»Diese kommunikative Rationalität drückt sich in der einigenden Kraft der verständigungsorientierten Rede aus, die für die beteiligten Sprecher gleichzeitig eine intersubjektiv geteilte Lebenswelt und damit den Horizont sichert, innerhalb dessen sich alle auf ein und dieselbe objektive Welt beziehen können.«40Habermas 2004, S. 110

Habermas sieht die Leistung »verständigungsorientierter Rede« in der Konstitution sowohl einer objektiven als auch einer intersubjektiv gemeinsamen Welt. Sie schafft verlässliches Wissen über die Welt und eine Sphäre zuverlässig geteilter Ansichten über die Welt. Die subjektiven inneren Zustände von Alter und Ego werden transzendiert durch die gemeinsame, geteilte Weltbeziehung. In einfachen Gesellschaften mit geringer Mitgliederzahl ist die gemeinsame Lebenswelt noch nicht in unterschiedliche Kommunikationssysteme differenziert. Kommunikation ist üblicherweise Kommunikation unter Anwesenden, die keiner Vermittlung bedarf – allenfalls einer Mediation durch Autoritätspersonen im Konfliktfall. In komplexeren, hierarchisch geschichteten Gesellschaften werden die lokalen Kommunikationsgemeinschaften durch reichweitengesteigerte Öffentlichkeiten überlagert, die der Repräsentation von Herrschaftsträgern gegenüber den Herrschaftsunterworfenen dienen. Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft konstituiert eine verallgemeinerte Öffentlichkeit als eigenständig ausgezeichneten sozialen Raum.

»Jede Begegnung, die sich nicht in Kontakten wechselseitiger Beobachtung erschöpft, sondern vom gegenseitigen Zugeständnis kommunikativer Freiheit zehrt, bewegt sich in einem sprachlich konstituierten öffentlichen Raum. Er steht für potentielle Gesprächspartner, die anwesend sind oder hinzutreten können, prinzipiell offen. (…) Für die öffentliche Infrastruktur von solchen Versammlungen, Veranstaltungen, Vorführungen usw. bieten sich die architektonischen Metaphern des umbauten Raumes an: wir sprechen von Foren, Bühnen, Arenen usw. Diese Öffentlichkeiten haften noch an den konkreten Schauplätzen eines anwesenden Publikums.«41Habermas 1998, S. 436 f.

Diese Öffentlichkeit muss über mediale Institutionen und Organisationen vermittelt werden, untersteht aber weiterhin der Norm, die Möglichkeitsbedingungen kommunikativer Rationalität zu wahren:

»Die Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie das Recht zu freier publizistischer Betätigung sichern die mediale Infrastruktur der öffentlichen Kommunikation, wobei Offenheit für konkurrierende Meinungen und eine repräsentative Meinungsvielfalt gewahrt werden sollen.«42Habermas 1998, S. 445

Dem steht nicht entgegen, dass diese Norm in der Realität der bürgerlichen Öffentlichkeit regelmäßig verletzt wird. Habermas beschreibt 1962 in »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, wie die bürgerliche Elitenkultur des späten 18. und 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Massengesellschaft (der »organisierten Moderne« im Sinne von Amlinger und Nachtwey) in ihren von der Aufklärungsepoche geerbten diskursiven Qualitäten verwässert wird, wobei sich das »kulturräsonierende« Publikum der frühbürgerlichen Zeit zu einem kulturkonsumierenden Publikum der Massenmedien wandelt:

»Heute wird das Gespräch als solches nur noch verwaltet: professionelle Dialoge vom Katheder, Podiumsdiskussionen, round table shows – das Räsonnement der Privatleute wird zur Programmnummer der Stars in Funk und Fernsehen, wird kassenreif zur Ausgabe von Eintrittskarten, gewinnt Warenform auch noch da, wo auf Tagungen sich jedermann ›beteiligen‹ kann. Die Diskussion, ins ›Geschäft‹ einbezogen, formalisiert sich; Position und Gegenposition sind im vorhinein auf gewisse Spielregeln der Darbietung verpflichtet; Konsensus in der Sache erübrigt sich weitgehend durch den des Umgangs. Problemstellungen sind als Fragen der Etikette definiert; Konflikte, einst in öffentlicher Polemik ausgetragen, werden auf die Ebene personeller Reibereien abgedrängt.«43Habermas 1987, S. 198

War ursprünglich das bürgerliche Publikum noch selbst herrschaftskritisch, solange es sich gegen die Überbleibsel der alten Ständegesellschaft zur Wehr setzte und davon zu emanzipieren suchte, gelangte es mit der Entstehung der Arbeiterklasse tendenziell in die Defensive, womit sich auch der Charakter der Öffentlichkeit wandelte:

»Publizität wird gleichsam von oben entfaltet, um bestimmten Positionen eine Aura von good will zu verschaffen. Ursprünglich garantierte Publizität den Zusammenhang des öffentlichen Räsonnements sowohl mit der legislativen Begründung der Herrschaft als auch mit der kritischen Aufsicht über deren Ausübung. Inzwischen ermöglicht sie die eigentümliche Ambivalenz einer Herrschaft über die Herrschaft der nichtöffentlichen Meinung: sie dient der Manipulation des Publikums im gleichen Maße wie der Legitimation vor ihm. Kritische Publizität wird durch manipulative verdrängt.«44Habermas 1987, S. 213

Mit der Erfindung und Durchsetzung der sozialen Medien ist eine hierzu gegenläufige Tendenz eingetreten: das konsumierende Publikum gewinnt durch die Option eigener öffentlicher Autorschaft zu minimalen Kosten das Vermögen zum öffentlichen Räsonnement zurück und schränkt die Autorität und Reichweite professioneller »Medienschaffender« ein. Diesbezüglich stoßen wir auch auf eine Auslassung von Amlinger und Nachtwey: was in ihrem Katalog der Kränkungen unter anderem fehlt, ist die Kränkung der journalistischen Elite durch die Erosion ihrer öffentlichen Autorität und ökonomischen Basis im Zeitalter der sozialen Medien. Die Verfasser identifizieren Spielarten des Ressentiments gegen die (mediale) Elite, aber übersehen die anti-populären Ressentiments innerhalb der medialen Elite selbst.

Der enorme von Habermas vorgenommene Begründungsaufwand zum kommunikativen Handeln als Grundlage der Infrastrukturen demokratischer Öffentlichkeit bleibt bei Amlinger und Nachtwey gänzlich unberücksichtigt. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass Habermas in seiner letzten Veröffentlichung zum Thema eine Gefährdung dieser Öffentlichkeit in empirischer Hinsicht verkürzend nur in den »Filterblasen« der sozialen Medien sieht.45Habermas 2022, S. 11 f. War die Kritik am Zustand der Mainstream-Medien bereits vor der Corona-Krise schwerwiegend, so ist sie mittlerweile erdrückend. Kommunikative Rationalität wird gefährdet durch beschädigte Infrastrukturen des öffentlichen Diskurses, und mit ihnen die auf deliberative Prozesse angewiesene Demokratie selbst.

Der Missbrauch des Begriffs der »Verschwörungstheorie«

Wenden wir die obigen Ausführungen zunächst auf das Thema der sogenannten »Verschwörungstheorien« an. Die anthropologische »Bedingung der Möglichkeit« des Erhebens von Geltungsansprüchen ist das menschliche Vermögen zur wechselseitigen rekursiven Perspektivübernahme. »Rekursiv« ist das Vermögen zur Perspektivübernahme, insofern es reflexiv ist: Ego versteht nicht nur Alters Aussage, sondern Alter versteht, das Ego sie versteht, und Ego versteht, dass Alter versteht, dass Ego sie versteht. Alter und Ego verstehen gegenseitig, dass eine Aussage nicht nur eine Aussage ist, sondern ein Verständigungsangebot, bei dem beiden Gesprächsteilnehmern sowohl die Sachreferenz als auch die Beziehungsreferenz bewusst sind. Beide haben ein (mehr oder weniger genaues) Bild von den inneren Zuständen des anderen, und beide haben (erstens) die prinzipielle Fähigkeit, ihr Gegenüber zu durchschauen und von ihm durchschaut zu werden. Es besteht (zweitens) auch die Möglichkeit der einseitigen oder gegenseitigen Täuschung, die eine Funktion des jeweiligen Vertrauens oder Misstrauens ineinander ist. Dabei sind auch Vertrauen und Vertrautheit verwandt, die je nach sozialer Distanz unterschiedlich stark ausfallen können – zu große Distanz wird als »Fremdheit« erfahren.

Die menschliche Fähigkeit, eigene Absichten zu verbergen, ermöglicht die Täuschung. »Verschwörungen« sind »Täuschungen zu dritt«, indem zwischen (mindestens) zwei Personen eine Verabredung eingegangen wird, (mindestens) eine weitere Person zu täuschen. In sogenannten »barbarischen« Gesellschaften wie beispielsweise denen des europäischen Frühmittelalters sind erfolgreiche Täuschungen und Verschwörungen Teil des Alltags einer agonalen Kultur.46Scheibelreither 1999, S. 194 Gegen solche Zustände ist kommunikative Rationalität eine kollektiv zu erarbeitende und institutionell abzusichernde Zivilisationsleistung, die getragen wird von der hermeneutischen Utopie des universellen Gesprächs:

»Vernünftigkeit trauen wir allen Subjekten zu, die sich an Verständigung, und damit an universalen Geltungsansprüchen orientieren, wobei sie ihren Interpretationsleistungen ein intersubjektiv gültiges Bezugssystem von Welten, sagen wir: ein dezentriertes Weltverständnis zugrundelegen. Dieses zugrundeliegende Einverständnis, das uns vorgängig verbindet und an dem jedes faktisch erzielte Einverständnis kritisiert werden kann, begründet die hermeneutische Utopie des allgemeinen und unbegrenzten Gesprächs in einer gemeinsam bewohnten Lebenswelt.«47Habermas 1988, S. 193

Diesseits dieser Utopie, in der historischen Realität, sind »Verschwörungen« als Sonderform strategischen Handelns Teil des menschlichen Alltags. Der Verfasser von Die Verschwörung des Catilina, Gaius Sallustius Crispus, gilt den Historikern nicht als »Verschwörungstheoretiker«, sondern als verlässliche Quelle. Die Ermordung Caesars war ebenso eine Verschwörung wie das Attentat auf Lorenzo und Giuliano Medici, die Pulververschwörung des Guy Fawkes und die Ermordung Abraham Lincolns. Auch der militärische Widerstand gegen Hitler, die Bombe in der Wolfsschanze, war eine Verschwörung, und von Ramses III. über Domitian, Commodus und viele andere mehr hat man sich mit Palastverschwörungen tatsächlicher oder vermeintlicher Tyrannen entledigt. Angesichts der historischen Realität ist es geradewegs absurd, Verschwörungstheorien von vornherein als »unwahres Wissen« zu kategorisieren – »die apriorische Bestimmung des Wahrheitsgehaltes verschwörungstheoretischer Deutungen bei der Analyse möglicher Ursachen (erscheint) unzulässig und irreführend.«48Anton 2011, S. 62 Wenn also Verschwörungen in der menschlichen Geschichte praktisch allgegenwärtig sind: Wie kam es allererst dazu, dass Verschwörungstheorien einen so schlechten Ruf haben? Amlinger und Nachtwey zitieren aus Franz L. Neumanns »Angst und Politik«:

»Ein entscheidender Aspekt der Abwehr sozialer Deprivationsängste sei die Identifikation mit einer autoritären Führerpersönlichkeit. Mit ihr partizipiert der autoritäre Charakter an einer Macht, die ihm selbst versagt ist. Angst denkt Neumann darum als einen wirkmächtigen politischen Affekt, der Massen vorrational zu mobilisieren vermag. Aus ihr entspringe eine ›Verschwörungstheorie der Geschichte‹, die an Geltungskraft gewinne, wenn Ereignisse, die den eigenen sozialen Status bedrohen, unverständlich bleiben:

›So wie die Massen ihre Erlösung aus dem Unglück durch absolutes Einssein mit einer Person erhoffen, so schreiben sie ihr Unglück bestimmten Personen zu, die durch eine Verschwörung gegen die Massen das Unglück in die Welt gebracht haben. Der Geschichtsprozeß wird personifiziert. Der Haß, das Ressentiment, die Angst vor allem, die durch große Umwälzungen erzeugt wird, werden auf bestimmte Personen konzentriert, die als teuflische Verschwörer denunziert werden.‹49Neumann 1978 (1954), Angst und Politik, S. 435

Eine Gesellschaft, die den Menschen chaotisch und unverständlich erscheint, ihnen zudem potenziell feindlich begegnet, entfremde sie letztlich von der sozialen Realität. Sie produziert nicht nur Massen, die sich passiv ihrem Schicksal fügen, sondern mobilisiert eine zerstörerische Aktivität, die sich gegen die imaginäre Bedrohung wendet.«50Amlinger/Nachtwey 2022, S. 56

Der entscheidende Satz ist hier: »Der Geschichtsprozeß wird personifiziert.« Offensichtlich geht es um falsche Abstraktionen, um die Zuschreibung der Effekte schwer durchschaubarer mittel- und langfristiger Strukturen und Prozesse in Geschichte und Gesellschaft auf menschliche Agenten und langfristige Planungen, wie etwa im Falle der berüchtigten »Protokolle der Weisen von Zion«51vgl. Ben-Itto 2001, Sammons 2003. Ähnlich argumentiert Richard Hofstadter in seinem Aufsatz über The Paranoid Style in American Politics, der insbesondere die antikommunistischen Verschwörungstheorien der McCarthy-Zeit zum Hintergrund hat:

»The central image is that of a vast and sinister conspiracy, a gigantic and yet subtle machinery of influence set in motion to undermine and destroy a way of life. (…) The distinguishing thing about the paranoid style is not that its exponents see conspiracies or plots here and there in history, but that they regard a ›vast‹ or ›gigantic‹ conspiracy as the motive force in historical events. History is a conspiracy, set in motion by demonic forces of almost transcendent power, and what is felt to be needed to defeat it is not the usual methods of political give-and-take, but an all-out crusade. The paranoid spokesman sees the fate of this conspiracy in apocalyptic terms – he traffics in the birth and death of whole worlds, whole political orders, whole systems of human values. He is always manning the barricades of civilization. He constantly lives at a turning point: it is now or never in organizing resistance to conspiracy. Time is just running out.«52Hofstadter 2008, S. 29 f.

Verschwörungen gelten hier als Triebkraft der menschlichen Geschichte selbst, »Geschichte ist eine Verschwörung« – an dieser Stelle kann nur angedeutet werden, dass man in solcherlei Verschwörungsglauben eine moderne Form der Gnosis identifizieren kann53vgl. Voegelin 1999, von der nicht zuletzt darum eine politische Gefahr ausgeht, weil sie eine Affinität zum »erlösenden Schrecken« hat, durch den ein sinnentleertes Alltagsleben aus seiner Trägheit aufgeweckt werden soll. Micha Brumlik hat darauf hingewiesen, dass dies auf eine ganze Generation deutscher Intellektueller der Zwischenkriegszeit zutraf, von denen Heidegger nur der prominenteste war, wenn er im Wintersemester 1929/30 in einer Vorlesung zur Metaphysik(!) formulierte: »Wir müssen erst wieder rufen nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag.«54Heidegger 2018, S. 255 Brumlik schreibt:

»Dem Schrecken einer von jedem Sinn entleerten Welt, die weder Orientierungen noch Gemeinschaft aufzubieten hat, vermögen nur der kometenhafte Einschlag von etwas Anderem, die Verbreitung erhellender Angst und die Bereitschaft zur Übernahme des eigenen Lebens in voller Verantwortung entgegenzuwirken. Gute Vorsätze und der eigene gute Wille sind damit freilich überfordert – der leere Schein der Welt kann nur durch einen von außen kommenden Schock aufgebrochen werden.«55Brumlik 1992, S. 314

Es steht außer Frage, dass Verschwörungstheorien dieser Art auch in unserer Gegenwart weiterhin in Blüte stehen, zumal sie sich in den Echokammern des Internet beliebig vervielfältigen und variieren lassen. Diese Form des Denkens nimmt auch immer wieder neu aufkommende Themen als subkulturelle Impulse in seine Produktivität auf, etwa in der weit verbreiteten Form des Glaubens an außerirdische Einflüsse auf die menschliche Geschichte, und auch hier finden sich immer wieder Anschlüsse an rechtsextremes Gedankengut.56vgl. Kramer 2014

Nun gilt aber auch, was Andreas Anton ironisch so formuliert hat: »Die Aussage, dass Verschwörungstheorien derzeit Hochkonjunktur haben, hat derzeit Hochkonjunktur.«57Anton 2020, S. 12 Der Vorwurf, »verschwörungstheoretischem« Denken zu erliegen, wird nicht erst seit der Corona-Krise, aber seither in gesteigertem Maße, in einem Umfang als Kampfbegriff missbraucht, dass er als deskriptiver Begriff der Sozialwissenschaften mittlerweile vollständig verbrannt ist. Amlinger und Nachtwey ist die Polarisierung der Debatten in den »Corona-Jahren« aufgefallen, und zwar in Bezug auf Menschen, von denen sie dies nicht erwartet hätten:

»Oft handelt es sich bei den entsprechenden Personen um Menschen, die sich selbst als aufgeklärt und liberal beschreiben und die nicht selten über eine umfassende Bildung verfügen. Ihre Sorge gilt nicht autoritären Populisten, weder Donald Trump noch Wladimir Putin, und auch nicht rechtspopulistischen Parteien wie der AfD. Sie wähnen sich eingeschnürt von einer Vielzahl von Regeln, Vorschriften und Verboten. Diese ersonnen habe der ›Mainstream‹ oder neuerdings die ›Woken‹. Sie sehen sich als Opfer eines sinistren Establishments, in dem Liberale und Linke, Wissenschaft und globale Unternehmen einen Totalitarismus ungeahnten Ausmaßes vorbereiten.«58Amlinger/Nachtwey 2022, S. 9 f.

Hier steckt der Vorwurf in der Formulierung von den »Opfer(n) eines sinistren Establishments«, mit der eine irrationale politische Urteilsbildung impliziert wird. Diesen Vorwurf machen sie explizit auch zeitgenössischen Intellektuellen wie z. B. Giorgio Agamben:

»Agambens Beiträge zur Politik der Pandemie führen anschaulich vor, wie eine Kritik der Macht, die sich auf dunkle Machenschaften der Regierenden beruft, in Verschwörungsdenken umschlagen kann.«59Amlinger/Nachtwey 2022, S. 230

Die Geltungsansprüche dieser politischen Urteilsbildung werden von den Verfassern ohne Rückgriff auf Argumente in der Sache a priori zurückgewiesen und der eigene Geltungsanspruch, die politische Realität angemessen zu erkennen, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht:

»Doch wie kommt es, das sozial integrierte, ja erfolgreiche Menschen sich derart in imaginäre Scheinwelten verlieren, dass sie lieber in Kauf nehmen, alles zu verlieren – den beruflichen Erfolg, die Freunde, die Familie –, als den eigenen Verschwörungsglauben zu hinterfragen?«60Amlinger/Nachtwey 2022, S. 225

Hier fehlt jegliche Differenzierung, von welchem »Verschwörungsglauben« konkret die Rede ist. Was auf Mitglieder des »Neuschwabenland-Treffs« oder Angehörige der »Reichsbürger«-Szene zutreffen mag, muss noch lange nicht für Kritiker der Einflussnahme privater Stiftungen auf internationale Organisationen gelten, und was man von der These einer Pharma-Verschwörung hält, kann man nicht bewerten, ohne zuvor Thomas Röpers Open Source Intelligence-Untersuchung in seinem »Inside Corona«61Röper 2022 zumindest sinnverstehend nachvollzogen zu haben. In welchen Fällen es sich um »imaginäre Scheinwelten« handelt und in welchen Fällen schlicht um realistische Analysen, darf nicht mit pauschalen Floskeln verwischt werden.

»Konspirationisten, wie wir sie beobachtet haben, kündigen das Realitätsprinzip auf, um sozialem Druck zu entkommen. Ihr Ich gleicht Spannungen aus, indem es die Realität entsprechend dem Begehren modelliert. Verschwörungstheorien oder paranoide Welterklärungen kompensieren die Realität der Schranken und Entbehrungen, indem sie über exklusive Wissensbestände ein Phantasma der Souveränität herstellen: Das Weltgeschehen wird intentional von dunklen Mächten gesteuert, von deren Existenz einzig privilegierte Individuen – ›Sehende‹ oder ›Erwachte‹ – wissen. Coronaskeptiker:innen stellen nicht nur die Gefährlichkeit des Virus infrage, sondern mit ihr zugleich die staatlichen Machtbefugnisse, die das individuelle Handeln einschränken (siehe Kapitel 7). Der Konspirationist kann in diesem Sinne als Symptom epistemischer Konflikte verstanden werden, über entsprechende Narrative werden gebrochene Versprechen und Kränkungen kanalisiert.«62Amlinger/Nachtwey 2022, S. 191

In diesem Zitat springt dem Leser das vorgängig gefällte Werturteil geradewegs ins Gesicht. Die Formulierung »Coronaskeptiker:innen stellen … die Gefährlichkeit des Virus infrage«, enthält bereits eine unzulässige Unschärfe, da unterschlagen wird, dass es sich bei dem Urteil über die Gefährlichkeit des Virus um eine relative, nicht um eine absolute Skalierung gehandelt hat: es ging überwiegend um die Gefährlichkeit im Vergleich zu früheren Influenza-Wellen, die seit Jahren die Kapazitäten der Kliniken an ihre Grenzen gebracht haben, ohne dass darum über Lockdowns auch nur nachgedacht worden wäre. Die Kritik zielte dementsprechend auf die von staatlichen Instanzen kalkuliert verbreitete Panikstimmung. Dass Amlinger und Nachtwey in diesem Zusammenhang auch die Infragestellung »staatlicher Machtbefugnisse« beanstanden, kommt einem Offenbarungseid gleich. Denn die staatliche Inanspruchnahme solcher Befugnisse ist unter dem Gesichtpunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit zu bewerten und damit an juristische Geltungsansprüche gebunden. Dabei haben verfassungsjuristische Bedenken auch Eingang in den Kommentar zum Infektionsschutzgesetz gefunden.63Kießling 2020 Die Verfasser von »Gekränkte Freiheit« servieren uns hier die Ungeheuerlichkeit, Grundfragen der Rechtmäßigkeit staatlichen Exekutivhandelns mit einem Aufguss von Küchenpsychologie als »Aufkündigung des Realitätsprinzips« den Siphon hinunterspülen zu wollen!

Es ist nun aber genau die hier zu konstatierende A-Priori-Zurückweisung »verstörender« Geltungsansprüche als indiskutabel, die uns einen roten Faden für die Kritik an der Vorgehensweise von Amlinger und Nachtwey in die Hand gibt und den wir für den verbleibenden Teil dieses Essays verfolgen werden. Nehmen wir ein konkretes Beispiel aus dem Text. Amlinger und Nachtwey fassen als illustrierendes Beispiel für die Standpunkte der von ihnen Interviewten die Ansichten einer Frau Schönle zusammen:

»Schon als Jugendliche hat sie sich für Ungleichheit, Diskriminierung und Antirassismus interessiert. Bisher hat sie meistens die Grünen und manchmal die SPD gewählt. In der Pandemie war sie von den Grünen dann jedoch zutiefst enttäuscht, da diese der von ihr diagnostizierten | Aushöhlung der Demokratie nicht entgegentraten. Ihr endgültiges Erweckungserlebnis sei schließlich ein Papier aus dem Innenministerium gewesen. Die darin geschilderten Maßnahmen, vor allem die Maskenpflicht, empfand sie als Missbrauch, die Angstmache als Psychoterror, besonders für Kinder. Nach der Lektüre beschloss sie, ein System, das Angst instrumentalisiere, nicht länger zu unterstützen. Einige Menschen aus ihrem Bekanntenkreis, berichtet Frau Schönle, seien wenige Wochen nach der zweiten Impfung gestorben. Sie wisse zwar die Todesursache nicht, kenne aber niemanden, der an Corona gestorben sei. Sie glaubt, die Pandemie werde genutzt, um eine politische Agenda durchzusetzen. Wissenschaftler:innen, die anderer Meinung seien, würden diffamiert.«64Amlinger/Nachtwey 2022, S. 255 f.

Das anstößige Indiz in dieser Paraphrase ist nicht die Verwendung der indirekten Rede, sondern die Bezugnahme auf das »Papier aus dem Innenministerium« als »Erweckungserlebnis«. Der Begriff entstammt einem religiösen Kontext und bezeichnet das, was die insbesondere die pietistische Theologie unter metanoia (dem ursprünglichen griechischen Wort für die Kirchenbuße) versteht: eine innere Umkehr des Lebensweges und eine Bekehrung hin zu Jesus Christus. Anhand der Andeutung des Inhalts dürfen wir davon ausgehen, dass mit diesem Papier das Corona-Strategiepapier des Innenministeriums65https://www.abgeordnetenwatch.de/sites/default/files/media/documents/2020-04/bmi-corona-strategiepapier.pdf gemeint ist, das im April 2020 unter dem Stichwort »Panikpapier« in die Öffentlichkeit gelangt ist und in dem unter anderem eine Fokussierung der Kommunikation auf einen (wie auch immer ermittelten) worst case empfohlen wurde.

Amlinger und Nachtwey bleiben ein Argument dafür schuldig, warum sie Frau Schönles Reaktion auf dieses Papier als rein subjektive, innerliche und tendenziell irrationale Reaktion (»Erweckung«) betrachten und nicht als eine in der Sache begründete rationale Furcht vor staatlichem Handeln. Die Verfasser verhalten sich damit implizit affirmativ zur entsprechenden behördlichen Auslegung des exekutiven Ermessensspielraums. Dieses Detail wäre möglicherweise zu vernachlässigen, wenn die Verfasser nicht auf jeder zweiten Seite ihres Buches ganz explizit mit ihren eigenen Wertstellungnahmen hausieren gingen. Im Kontext der Gesamtargumentation ist es ein Beispiel dafür, wie sie diskursethische Normen sozialwissenschaftlichen Argumentierens unterlaufen. Da ist es auch nur folgerichtig, wenn sie den Begriff des »Verschwörungsglaubens« ebenfalls nicht näher problematisieren, sondern pauschal als Indikator für irrationale, sozialpsychologisch zu erklärende Stellungnahmen nehmen. Betrachten wir folgende Feststellung der Verfasser:

»Die große Mehrheit der Befragten glaubt an Verschwörungstheorien, Personen mit einem niedrigen Bildungsabschluss stärker als solche mit einem höheren. Sie sind überzeugt von der Existenz geheimer Organisationen, die die Politik entscheidend beeinflussen, und glauben, dass die Regierung die Wahrheit verschweigt. Politiker:innen sind aus ihrer Sicht nur ›Marionetten‹ dieser Organisationen (dieser Aussage stimmen nur 8,5 Prozent nicht zu). Für die befragten Querdenker:innen besteht kein Zweifel daran, dass Politik und Medien unter einer Decke stecken. Der Aussage, Bill Gates wolle eine weltweite Zwangsimpfung einführen, widersprechen weniger als 10 Prozent.«66Amlinger/Nachtwey 2022, S. 258

Rufen wir uns die Charakterisierung von Verschwörungstheorien in Erinnerung, wie wir sie oben bei Franz Neumann und Richard Hofstadter zitiert haben. Im Unterschied zu diesen Definitionen geht es in obigem Zitat um eine ganz andere Ebene: Organisationen, die Politik beeinflussen, Regierungen, die Wahrheiten zurückhalten, Politiker mit mangelnder Autonomie gegenüber den Einflussnahmen von Pressure Groups, der Schulterschluss von Politik und Medien, das »philanthropische« Engagement der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. Das alles sind Themen, wie sie seit Jahren oder Jahrzehnten auch in der konventionellen Politikwissenschaft aufgegriffen werden. Es sind rationale Kritiken, die sich dem diskursiven »Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen« (Robert Brandom) stellen und sich auf empirische Daten stützen können.

Was man der in der Querdenken-Bewegung formulierten Kritik allenfalls vorhalten könnte, wäre eine unzureichende Elaboration der betreffenden Argumente. Eine solche Kritik wäre jedoch wohlfeil, weil billigerweise nicht von jedem, der dem Staat und weltweit operierenden Großunternehmen nicht (mehr) über den Weg traut, eine Kritik auf dem Niveau akademischer Sozialwissenschaft erwartet werden kann. Hier ist auch eine Mahnung von Jürgen Habermas am Platz, der darin einen Einwand von Herbert Schnädelbach aufgreift – diskursive Rationalität liegt nicht immer in vollständig elaborierter Form vor, sondern kann latent bleiben, ohne allein darum schon als irrational gelten zu müssen:

»Die Fixierung an das Begründungsmodell der Rationalität verführt dazu, alles solange für irrational zu halten, wie es nicht vollständig argumentativ oder diskursiv eingelöst ist – und damit wäre das Feld des Irrationalen ins geradezu Gigantische ausgeweitet.«67Habermas 2004, S. 102

Das bedeutet, dass das Erheben von Geltungsansprüchen nicht allein schon deswegen irrational ist, weil ihre rationale Begründung nicht vollständig und gemäß wissenschaftlicher Standards durchgeführt worden ist. Es ist naheliegend, dass die Inflationierung des Vorwurfs der »Verschwörungstheorie« auf eben einer solchen ungerechtfertigten Ausweitung der Irrationalitätsunterstellung auf latent rationale Argumente beruht. Amlinger und Nachtwey nehmen die zunehmende Wissenschaftsabhängigkeit des Wissens nur als Quelle von Kränkungen in den Blick. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, die Carsten Brosda in Bezug auf den Journalismus als »Diskursanwaltschaft« bezeichnet hat: eine professionelle Hilfestellung bei der sachgerechten Ausformulierung von Geltungsansprüchen durch wissenschaftliche Laien oder Bürger mit geringer Bildungsqualifikation, die auf diese Weise von latenter zu manifester Rationalität promoviert werden können. Brosda schreibt:

»Wenn von einer advokatorischen Komponente des kommunikativen oder diskursiven Journalismus gesprochen wird, dann ist damit zunächst nicht gemeint, dass sich Journalisten zu Anwälten bestimmter Standpunkte machen, sondern dass sie als Anwälte den Bedingungen der Möglichkeit öffentlicher Diskurse verpflichtet sind. (…) Ein diskursiv verfasster Qualitätsjournalismus rationalisiert, versachlicht und integriert die in zahllose räumlich, zeitlich und thematisch gegliederte Teilöffentlichkeiten zerfallene gesellschaftliche Kommunikation und ermöglicht so die notwendige Orientierung über den Zustand des gesellschaftlichen Diskurses.«68Brosda 2008, S. 378 f.

Der französischen Soziologen Luc Boltanski sieht eine ähnliche Aufgabe der »kritischen Soziologie« im Sinne einer »pragmatischen Soziologie der Kritik« gestellt.69Boltanski 2010, S. 38 ff. Dieser Ansatz verwirft »die Asymmetrie zwischen dem durch die Weihen der Wissenschaft aufgeklärten Soziologen und den in den Sphären der Illusion versunkenen gewöhnlichen bzw. Alltagsmenschen«.70Boltanski 2010, S. 45

»Dazu hielten wir es für notwendig, einen allzu machtvollen Erklärungsapparat auszuklammern, dessen mechanische Anwendung die Daten zu erdrücken drohte (so als wüßte der Soziologe immer schon im voraus, was er entdecken wollte), und statt dessen gewissermaßen naiv uns anzuschauen, was die Akteure tun, wie sie die Absichten der anderen interpretieren, wie sie ihre Sache argumentativ vertreten, usw.«71Boltanski 2010, S. 45 f.

Amlinger und Nachtwey lassen sich scheinbar auf diese Ebene des Sinnverstehens der Stellungnahmen der von ihnen Interviewten ein, betrachten deren Äußerungen dann aber gleichsam behavioristisch nur als von Kränkungsstimuli hervorgebrachte Verhaltenspathologien, weil sie die Geltungsansprüche und rationalen Sinngehalte ihrer Interviewpartner stets schon vorgängig mit der Keule ihrer eigenen »progressiven« Wertstellungnahmen erschlagen haben.

Im sechsten Kapitel ihres Buches, »Sturz der Wahrheitssuchenden«, vollführen sie dieses Kunststück nicht an »gewöhnlichen bzw. Alltagsmenschen«, sondern an Intellektuellen, deren angebliche Kränkungen sie aufzudecken beanspruchen.

Die Verfemung der konservativen Kulturkritik

Unter den anekdotischen Evidenzen, die Amlinger und Nachtwey gelegentlich in das systematische Argument einfügen, ist auch die vom »Professor, der AfD-Politiker einlädt und durch den studentischen Protest seine Meinungsfreiheit verletzt sieht.«72Amlinger/Nachtwey 2022, S. 171 f. Nicht das Verhalten der Studenten wird hier skandalisiert, sondern die Beschwerde der Lehrkraft, die den Protest nicht schweigend hinnehmen will. Tatsächlich lässt sich mit Leichtigkeit eine Argumentation finden, die die Wertung umkehrt: Der erwähnte Professor sieht nicht seine Meinungsfreiheit verletzt, sondern die Meinungsfreiheit – Meinungsfreiheit ist eine Institution, die gerade auch im akademischen Raum unter Schutz zu stehen hat, damit die nachfolgende Generation lernt, sich argumentativ mit abweichenden Meinungen auseinanderzusetzen.

»Zutiefst illiberal« ist daher das Verhalten der Studenten, weil sie dazu beitragen, eine Institution zu zerstören. Die Befindlichkeit, eine Meinung nicht zu ertragen, hat zurückzustehen hinter der Zumutung, einer solchen Meinung mit dem besseren Argument zu begegnen. Studenten, die sich dieser Zumutung entziehen, versagen vor ihrem gesellschaftlichen Auftrag. Tatsächlich müssten diese Studenten ihrem Professor dafür danken, dass sie die Gelegenheit bekommen, die unsinnigen Behauptungen des unbeliebten Gastes von der AfD öffentlich zu seiner Schande zu zerpflücken. Stattdessen versteigen sich die Verfasser in Bezug auf diesen Professor (sowie auf eine »Freundin, die hinter der Impfkampagne eine Verschwörung globaler Pharmakonzerne vermutet« und einen »Onkel, der die Aufnahme von Geflüchteten als Bedrohung seiner deutschen Identität wahrnimmt«) zu folgender Pauschaldiagnose:

»Mit ihrer fundamentalen Skepsis gegenüber äußeren Einschränkungen und dem Pochen auf freie Selbstentfaltung erinnern diese Menschen dabei auf den ersten Blick an die mündigen Bürger:innen, welche die Individualisierung hervorgebracht hat. (…) Doch in der Artikulation ihres Unbehagens entfaltet das Insistieren auf einem individuellen Anrecht auf negative Freiheit ein destruktives Potenzial, das sich in einer frivolen bis aggressiven Dissidenz entlädt. (…) Wie konnte das normative Ideal der Freiheit sich mit zutiefst illiberalen Ansichten verbinden?«73Amlinger/Nachtwey 2022, S. 172

Teil des Argumentationsmusters ist die auf den »Gegenstand« projizierte eigene Wertumkehrung: die Genannten sind mündige Bürger nur »auf den ersten Blick«, die Wahrnehmung ihrer Freiheit wird zur »negativen Freiheit« umgewertet (was sie nur vom nicht ausgewiesenen Wertstandpunkt der Verfasser aus ist), sie wird als »destruktiv« bezeichnet, wobei nicht gesagt wird, was genau denn eigentlich zerstört wird, ebenso wird nicht gesagt, was genau an deren Dissidenz als »frivol bis aggressiv« zu bewerten wäre, und schließlich erscheint die Behauptung, die entsprechenden Standpunkte seien »zutiefst illiberal«, allenfalls im Lichte der vorangegangenen Beschimpfungen plausibel.

Tatsächlich aber befinden sich Amlinger und Nachtwey in Erklärungsnot, weil es sich bei dem hier beanspruchten »Register« von Normalität und Abweichung genaugenommen um ein Vexierbild handelt: aus Sicht der Kritisierten sind die Abweichler vom bürgerlichen Freiheitsideal diejenigen, die die betreffenden Freiheitseinschränkungen befürworten. Amlinger und Nachtwey wollen sich nicht eingestehen, dass ihre Parteinahme einem Establishment gilt, das im Begriff ist, die freiheitlichen Werte der Gesellschaft aufzukündigen. Sie verdrängen die Wahrnehmung des Kulturbruchs, der sich ereignet hat, und das könnte ihr obsessives, zwanghaft wirkendes Festhalten an dem Anspruch erklären, zu den »Progressiven« zu zählen.

Kampf um ein Vexierbild

Außer Giorgio Agamben (»An welchem Punkt stehen wir?«), der als »Verschwörungstheoretiker« klassifiziert wird, knöpfen sich die Verfasser Hans Ulrich Gumbrecht, Ulrike Guérot, Bernd Stegemann (»Die Moralfalle«), Robert Pfaller (»Erwachsenensprache«) und Sarah Wagenknecht (»Die Selbstgerechten«) als »gefallene Intellektuelle« vor, die in einem »Sturz der Wahrheitssuchenden« anscheinend Luzifer gleich aus dem progressiven Himmel in die regressive Hölle gefallen sind. Um die Geduld der Leser nicht mit der Wiederholung von bereits Gesagtem zu ermüden, greife ich nur einzelne Beispiele für die Anklagen der Verfasser heraus.

Ulrike Guérot wird (wie auch Agamben) ein »überschießender Zweifel« vorgehalten:

»Sie übersetzen das diffuse Unbehagen in eine absolute Skepsis, in der das eigenmächtige Denken zum Souverän über die Fakten wird.«74Amlinger/Nachtwey 2022, S. 233

Aber was wäre denn das »progressive« Gegenstück zum »eigenmächtigen Denken«? Ist denn nicht das eigenmächtige Denken exakt das von der Aufklärung geforderte sapere aude, der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen? Was ist das »progressive« Gegenstück zum »Souverän über die Fakten«? Ist nicht Souveränität über die Fakten die regulative Idee der Wissenschaft? Vielleicht ist ja der »progressive« Standpunkt der jenes Schiller-Zitats: »Mut zeiget auch der Mameluck – Gehorsam ist des Christen Schmuck!«

Ein weiteres Verdachtsmoment, das gegen die »gestürzten Wahrheitssuchenden« in Stellung gebracht wird, ist der angebliche Verlust ihrer Rolle als Fürsprecher der Unterdrückten. Das sei ein »Geschäftsmodell«, das »in der dezentralen Öffentlichkeit spätmoderner Gesellschaften unter Druck [gerate]: Die Benachteiligten sprechen plötzlich für sich selbst und kritisieren dabei auch jene etablierten Intellektuellen, die sie zuvor repräsentierten.«75Amlinger/Nachtwey 2022, S. 234 Man fragt sich wiederum, ob denn das nicht auch für die feministischen und »woken« Intellektuellen gilt, die auch bloß beanspruchen, die Interessen ihrer Minderheiten zu vertreten.

Bernd Stegemann mache sich ähnlich wie Sarah Wagenknecht eines »nostalgischen Klassenkampfes« schuldig (angeblich den guten alten Zeiten hinterhertrauernd, in denen das Proletariat noch den Worten seiner sozialistischen Vordenker lauschte), der sich dann gegen die »relativ machtlosen« Vertreter der Identitätspolitik richte. Von grundsätzlichem Interesse sind zwei Vorwürfe, die Amlinger und Nachtwey gegen Stegemann und Pfaller richten, weil sie meine These von der »Kritischen Theorie ohne Habermas« punktgenau bestätigen. Stegemann wird vorgehalten:

»Zu diesem nostalgischen Impuls gehört auch, dass Stegemann an einem Bild der Öffentlichkeit als einer Sphäre festhält, in der nicht Empfindungen zählen, sondern Argumente. Hier lauert ein gewisser Affekt gegen Emotionen, das Differente und das vermeintlich übersensible ›woke‹ Bewusstsein. So sieht Stegemann die entscheidende Errungenschaft von Öffentlichkeit darin, eine ›komplexitätstaugliche öffentliche Kommunikation‹ möglich zu machen. Das Chaos der Stimmen könne dort in ein gemeinsames Gespräch überführt werden, das jedoch die universelle Gleichheit aller Mitglieder voraussetze.«76Amlinger/Nachtwey 2022, S. 235

Zunächst kann man sich fragen, wie es möglich sein sollte, »Affekte« gegen »Emotionen« auszuspielen. Anscheinend sind »Affekte gegen Emotionen« regressiv, »Emotionen gegen Affekte« dagegen progressiv. Und man mag auch nicht so recht sehen, was für eine Sünde man auf sich lädt, wenn man »an einem Bild der Öffentlichkeit als einer Sphäre festhält, in der nicht Empfindungen zählen, sondern Argumente«. War nicht genau dies der ursprüngliche Sinn der räsonnierenden bürgerlichen Öffentlichkeit? Was könnten wir uns besseres wünschen als »ein gemeinsames Gespräch, das die universelle Gleichheit aller Mitglieder voraussetzt?« Was Amlinger und Nachtwey hier zu beanstanden finden, teilen sie uns kurz darauf mit Bezug auf Robert Pfaller mit:

»In eine ähnliche Kerbe schlägt der Wiener Philosoph Robert Pfaller, der in seiner Schrift Erwachsenensprache (2018) eindringlich die »mündige Bürgerlichkeit (citoyenneté)« verteidigt. Öffentlichkeit, mithin zivilisatorische Umgangsformen beruhten auf der ›Fähigkeit, Distanz zu dulden‹. Diese Argumentation kommt uns nicht ohne Grund bekannt vor, sie stammt von Richard Sennett und wird bei Pfaller herangezogen, um die Pathologien der ›Postmoderne‹ an einem untergegangenen Ideal zu messen. Diese bürgerliche Öffentlichkeit ist jedoch eine ›Retrotopie‹, ein untergegangener Sehnsuchtsort, der inneren Zusammenhalt durch Homogenität garantierte. Geprägt war er von einer normalisierenden Idee, die Allgemeinheit als Gleichheit dachte und damit das Persönliche, Besondere, Differente als destabilisierende Gefahren ausschloss.«77Amlinger/Nachtwey 2022, S. 235 f.

Amlinger und Nachtwey zitieren mit dem Begriff der »Retrotopie« ausdrücklich Zygmunt Bauman, genauer: seine letzte zu Lebzeiten veröffentliche Schrift Retrotopia. Für Bauman sind solche rückwärtsgewandten Sehnsuchtsbilder eine Folge einer »Negation der utopischen Negation« des Bestehenden, nachdem sich die utopischen Energien der Moderne erschöpft haben. Offensichtlich ist den Verfassern aber entgangen, welche Schlusspointe Bauman in diesem Buch formuliert, indem er aus einer Ansprache von Papst Franziskus im Jahre 2016 zitiert. Bauman sucht eine Antwort auf die Frage, ob es eine Chance gibt, eine »kosmopolitisch integrierte Menschheit« hervorzubringen:

»Diese Antwort verlangt Dialogfähigkeit, und ich zitiere sie hier ebenso wortwörtlich, wie man sie beherzigen sollte: ›Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur Erschöpfung wiederholen müssen, dann lautet es Dialog. Wir sind aufgefordert, eine Kultur des Dialogs zu fördern, indem wir mit allen Mitteln Instanzen zu eröffnen suchen, damit dieser Dialog möglich wird und uns gestattet, das soziale Gefüge neu aufzubauen. Die Kultur des Dialogs impliziert einen echten Lernprozess sowie eine Askese, die uns hilft, den Anderen als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen, und die uns erlaubt den Fremden, den Migranten, den Angehörigen einer anderen Kultur als Subjekt zu betrachten, dem man als anerkanntem und geschätztem Gegenüber zuhört.‹«78Bauman 199 f.

Das ist nun so nahe an Habermas’ »hermeneutische(r) Utopie des allgemeinen und unbegrenzten Gesprächs in einer gemeinsam bewohnten Lebenswelt«, wie man es sich nur wünschen kann, und es gibt Pfallers Ideal auf ganzer Linie Recht. Tatsächlich sind es Amlinger und Nachtwey, die uns hier philosophische Ungeheuerlichkeiten servieren, mit denen sie den Sinn der »bürgerlichen Öffentlichkeit« in ihr Gegenteil verkehren. Denn das Gleichheitspostulat dieser Öffentlichkeit ist ein formales Kriterium, bei dem die wechselseitige Anerkennung der öffentlich Sprechenden als rationale Subjekte gerade dazu dienen soll, das je unterschiedliche »Persönliche, Besondere, Differente« vermittelbar zu halten. Eine »destabilisierende Gefahr« geht davon dann und nur dann aus, wenn die diskursive Vermittelbarkeit zusammenbricht. Es ist das als solches eben nicht in Frage gestellte Nicht-Homogene, das diese Vermittlungsarbeit erfordert, denn Homogenes muss nicht vermittelt werden. Ein solcher vermittelnder Dialog ist aber nur möglich, wenn die kommunikative Rationalität der bürgerlichen Öffentlichkeit als Norm und Praxis intakt gehalten wird.

Was »gefallene Intellektuelle« wie Stegemann und Pfaller kritisieren, ist ja gerade, dass das »woke« Bewusstsein im Begriff ist, diese Vermittlungskapazität der bürgerlichen Öffentlichkeit zu zerstören. Man kann die rationale, diskursive Verfassung der modernen Öffentlichkeit und Demokratie nicht dadurch verabschieden, dass man sie kurz angebunden zum »untergegangenen Sehnsuchtsort« deklariert, ohne sich damit an der Zerstörung der modernen Öffentlichkeit und Demokratie zu beteiligen und einer neuen politischen Religion den Weg zu ebnen.

Denn faktisch ist das »woke« Bewusstsein ausschließlich am »Persönlichen, Besonderen, Differenten« des eigenen identitären Kollektivs interessiert, während dasjenige anderer Kollektive dämonisiert wird. Das ist aber nichts anderes als ein Rückfall in den Tribalismus, der die Gefahr eines kulturellen Bürgerkriegs heraufführt und in den USA mittlerweile zu einer manifesten Spaltung der Gesellschaft geführt hat. Mit anderen Worten: das »woke« Bewusstsein steht in der vordersten Linie eben jener regressiven Modernisierung, vor der Amlinger und Nachtwey uns warnen möchten.

Dass sie beide mit dem Standpunkt ihres eigenen Kollektivs verheiratet sind, fällt an einer Kleinigkeit auf: sie verteidigen Flüchtlingshelfer gegen eine Kritik, die sich gegen deren Motive richtet: »Den Helfenden werden letztlich egoistische Motive der Selbstaufwertung unterstellt, die Geflüchtete zu gestaltlosen Objekten der Fürsorge degradiere.«79Amlinger/Nachtwey 2022, S. 241 Das ist nun freilich kein anderes Verfahren als jenes, welches Amlinger und Nachtwey über hunderte von Seiten ihres Buches selbst anwenden.

Bevor wir uns dem Resümee und Ausblick dieses Essays nähern, möchte ich noch auf einen Aspekt des Umgangs der Verfasser mit der »Querdenken«-Bewegung eingehen. Es geht um angebliche »Wissenskränkungen«, die daraus entstehen, dass das menschliche Wissen über die Welt in immer stärkerem Maße von den Befunden und Erkenntnissen der Wissenschaften abhängig wird. Amlinger und Nachtwey schildern uns das Argumentationsverhalten der von ihnen Interviewten:

»Argumente werden schematisch aneinandergereiht; die autodidaktischen Laienexpert:innen erläutern, warum bestimmte Studienergebnisse so nicht stimmen können. Aus ihrer eigenen Anschauung und aus Schilderungen aus dem Freundes- und Familienkreis verfügen sie über ein anderes, ein besseres Wissen, was sie extrem misstrauisch macht. (…) Offizielle Darstellungen zum Coronavirus werden angezweifelt und als verzerrt kritisiert. Hier wird das uns bereits bekannte Register der Kritik aufgerufen, das sich über den Gegensatz Wissen/Anschauung ausbildet. Gegen das offizielle Wissen, die Macht der Expert:innen, setzen sie das eigene Recherchieren, das Den-Dingen-auf-den-Grund-gehen. (…) Sie fühlen, das etwas nicht stimmt. Ihre persönliche Intuition wird gegen die abstrakten, individuell nicht verifizierbaren Wissenschaften in Stellung gebracht.«80Amlinger/Nachtwey 2022, S. 261 f.

Die Begrifflichkeit der »Laienexpert:innen« und »Autoexpert:innen« verschleiert, was die Corona-Krise von Anfang an strukturiert hat: eine Polarisierung zwischen regierungskonformen Wissenschaftlern und Medien einerseits und verfemter wissenschaftlicher Gegenexpertise ausgewiesener Fachleute andererseits, die medial hingerichtet wurden wie Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg, ihrer Ämter enthoben wurden wie Friedrich Pürner, aus Einflußpositionen entfernt wurden wie Christoph Lütge, zum Opfer polizeilicher Repressionsmaßnahmen wurden wie Stefan Hockertz, von der Verfolgung der zahlreichen Ärzte ganz zu schweigen, die gegen gesundheitsbürokratische Regelungen versucht haben, nach dem eigenen, besten fachlichen Wissen und Gewissen zu handeln. Es steht nicht, wie die Verfasser unterstellen, »offizielles Wissen« gegen »Laienwissen«, sondern orthodoxes Fachwissen gegen heterodoxes Fachwissen.

Dass in ihrer Untersuchung nur die Laienstandpunkte sichtbar gemacht werden, liegt am Ziel der empirischen Untersuchung und ist für sich genommen nicht illegitim. Methodisch unsolide wird es durch die zwischen den Zeilen immer schon durchscheinenden und mit dem impliziten Anspruch auf axiomatische Gültigkeit eingebrachten Wertungen – wiederum ganz abgesehen davon, dass man ebenso gut auch fanatisierte Masken- und Impf-Fanatiker mit der Bereitschaft zur Denunziation ihrer Nachbarn als sozialpathologische Fälle hätte aufbieten können.

Das Problem, auf das Amlinger und Nachtwey nicht vorbereitet sind, besteht in der Möglichkeit, dass das System der »offiziellen« öffentlichen und politischen Realitätskonstitution selbst beschädigt ist. Das »Register« von Normalität und Abweichung führt dann in die Irre. Wenn wir es mit einer Kernschmelze der Rationalität im Zentrum des Systems selbst zu tun haben, dann liegt in der Argumentation von Amlinger und Nachtwey selbst ein Moment institutioneller Gewaltsamkeit: einer »symbolischen Gewalt« im Sinne Bourdieus, die aus einem Missbrauch des akademisch autorisierten Sprechens stammt. Von »gefallenen Intellektuellen« zu reden, verwendet nicht nur religiöse Semantik, sondern ist auch durchweht vom Brandgeruch der Inquisition. Indem sie ihren »Gegenständen« den Status als vernünftige Gesprächspartner mit diskutablen Geltungsansprüchen verweigern, vollführen sie Akte der Exkommunikation. Sie führen gleichsam eine intellektuelle Säuberung durch.

Ideologen des Posthistoire

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey stellen ihre Analyse unter den Begriff einer »regressiven Moderne«. Aber die Protagonisten dieser Regression sind für sie ausschließlich diejenigen, die gegen den aktuellen gesellschaftlichen status quo in einer Krisensituation protestieren. Eine Regression der elitennahen »Progressiven« ist in ihrem Modell nicht als Möglichkeit vorgesehen. Ebenso wenig in Betracht kommt für die Verfasser die Möglichkeit, dass eine Regression von den Eliten selbst ausgehen könnte – wie nämlich schon einmal, als sie der Demokratie von der Fahne gegangen und zum Faschismus übergelaufen sind. Eben diese Erfahrung gehört ja zum historischen Kontext der »Dialektik der Aufklärung«. Das »triumphale Unheil« war eines, das zwar viele Dispositionen im Volk aufgreifen konnte, aber gegen den Widerstand der Funktionseliten nicht anzurichten gewesen wäre. Durchaus haben die Verfasser mitbekommen, dass es eine Erfindung namens »Neoliberalismus« und eine Globalisierung gegeben hat – Werke wie Biebrichers »Politische Theorie des Neoliberalismus«81Biebricher 2021 oder Quinn Slobodians »Globalists«82Slobodian 2018 werden von ihnen genannt, und dass die neoliberale Ökonomie für das spätmoderne Individuum folgenreiche Zumutungen produziert, ist ihnen nicht entgangen.

Aber durch die Beschränkung ihres theoretischen Bezugsrahmens auf sozialpsychologische Ansätze bleibt die Formel von der »spätmodernen Gesellschaft« blutleer. Sie wird nicht in die Analyse einer historischen Konstellation eingeordnet, es gibt keine Wirtschaftsgeschichte, die gesamte historische Dynamik des Kapitalismus bleibt ausgespart, eine historische Interpunktion fehlt. Eine ereignisgeschichtlich konkrete Analyse historischer Konstellationen wie insbesondere der Jahre der Corona-Krise als auch eine polit-ökonomische Analyse kapitalistischer Dynamik liegt nicht im Vermögen der Verfasser. Wenn aber die vergangenen drei bis fünf Jahrzehnte nicht in Hinblick auf ihre konkrete historische Entwicklung gegliedert und verstanden werden, wenn nicht von technologischen Revolutionen, Kondratieff-Zyklen, der Struktur des Weltsystems und des Finanzkapitalismus die Rede ist, und wenn nicht die Geschichte der neoliberal-westlich getriebenen Globalisierung seit 1989 in ihrer konkreten Dynamik verstanden wird, dann wird die begrifflich in Anspruch genommene »Spätmoderne« in Ermangelung von innerer Differenzierung und historischem Ereignisbezug faktisch als das inerte Medium eines Posthistoire imaginiert. Die sich daraus ergebende Analyse ist dann ereignisblind und krisenblind. Darum ist sie auch außerstande, die dem Corona-Maßnahmenregime zugrundeliegende Krise angemessen zu verstehen.

Dass von »Spätmoderne« die Rede ist und nicht etwa von »Kapitalismus in der neoliberalen Epoche« erscheint einerseits der Fokussierung auf sozialpsychologische Figurationen angemessen, andererseits entsteht der Eindruck, dass sich gesellschaftliche Widersprüche in psychischen Spannungen und sozialpsychologischem Selbstmanagement erschöpfen. Auch die Behauptung oder implizite Annahme, dass sich die großen gesellschaftlichen Widersprüche erschöpft haben, ist ein Kennzeichen des Posthistoire. Mit der Unterscheidung von David Lockwood zu sprechen: die Probleme der Systemintegration scheinen sich erledigt zu haben, es bleiben allein Probleme der Sozialintegration zurück83Lockwood 2008:

»Die Bindung an alternatives Wissen verstärkt nach außen die soziale Isolation, kann aber nach innen gemeinschaftsbildend wirken. Dadurch leistet die paranoide Weltsicht eine dysfunktionale Sozialintegration, indem sie Individuen nicht an die Gesellschaft, sondern temporär an eine Gemeinschaft Gleichdenkender bindet.«84Amlinger/Nachtwey 2022, S. 192

Das heißt: dissidente Gruppen der Gesellschaft können in diesem Modell von vornherein nicht auf einer Seite eines sich dialektisch zuspitzenden Widerspruchs stehen, wie etwa eines Klassenkampfes. Sie gelten als »regressiv«, weil sie sich in den status quo nicht fügen wollen. Man übertrage diesen Gedanken auf die Zeit der Amerikanischen, Französischen oder Russischen Revolution: aus der Sicht des (britischen, französischen, zaristischen) Ancien Régime hat es sich bei den zu Unabhängigkeit und Revolution führenden Aufständen ebenfalls um »dysfunktionale Sozialintegration« gehandelt – aus der Perspektive einer Systemintegration dagegen um den krisenhaften Übergang in eine neue Ordnung.

Obwohl mit der Identifikation eines »Driftens«85S. 10, einer »Spätmoderne«86S. 12, eines entsprechenden »spätmodernen Individuums«87S. 18 und eines Zeithorizonts »seit den siebziger Jahren«88S. 20 eine temporale Dimension der Analyse aufgeboten wird, wird jenseits der ins Auge gefassten Wandlungen des Bewusstseins keinerlei gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte berücksichtigt. Eine objektive Verschlechterung der Demokratie- und Politikqualität aufgrund einer Verschiebung der politischen Machtverhältnisse hin zu demokratisch nicht mehr kontrollierbaren transnationalen Akteuren und Organisationen, auf die der von den Verfasser pathologisierte Protest eine sachlich angemessene Reaktion darstellen könnte, liegt für Amlinger und Nachtwey offensichtlich nicht im Bereich des Denkmöglichen. Die Verfasser bleiben in einer imaginären »Posthistoire« gefangen, weil sie dem von ihnen identifizierten »Driften« des Bewußtseins der »Rebellen« von »links« nach »rechts« kein historisches Driften der kapitalistischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Gesamtdynamik an die Seite zu stellen vermögen.

Ihre »Querdenker« und »libertären Autoritären« sind nach Ansicht der Verfasser einfach nur damit überfordert, den Gang des liberalen, progressiven Weltgeistes in seiner Großartigkeit zu würdigen. Das Hegelsche »Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit und ebendamit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt«89Hegel 1986, S. 32 wird anscheinend am Besten von Amlinger und Nachtwey verstanden und verwaltet. Dieses bei den Verfassern implizit bleibende Posthistoire-Bewusstsein unterstellt, dass bei allen Friktionen, die die kapitalistische Dynamik noch beinhaltet, dennoch keine auf fundamentale Systemkrisen drängenden gesellschaftlichen Widersprüche mehr gegeben sind. Nur unter dieser Bedingung ist die Annahme einer »dysfunktionalen Sozialintegration« nicht widersinnig. Die Gesellschaft kann in dieser Perspektive nur noch hoffen, den bereits eingeschlagenen »progressiven« Kurs konsequent weiterzuverfolgen und die »regressiven« Strömungen irgendeiner Art von Therapie zu unterziehen. Während die Eliten nichts falsch machen, was sich von ein bißchen Kritischer Theorie und Politikberatung nicht beheben ließe.

Auch bleibt die Betrachtung Teil eines innerwestlichen Selbstgesprächs. Dass derselbe Prozess, der die westlichen Gesellschaften in die Epoche des spätmodernen Selbstverwirklichungs-Subjekts führt – nämlich der ungenannt bleibende Prozess der globalisierten neoliberalen Transformation der Ökonomie unter den Leittechnologien der digitalen Revolution – beispielsweise in einem Land wie Russland einen ökonomischen Kollaps und eine Massenverarmung ausgelöst hatte, dessen Bürger sich wünschen konnten, sie hätten unsere Probleme, bleibt gänzlich außerhalb der Wahrnehmung. Stattdessen bringen die Verfasser auf der ersten Seite des Buches ihre Verwunderung zum Ausdruck, dass es Zeitgenossen gibt, deren politische Sorgen nicht primär einem Wladimir Putin gelten – ohne die Eigenschaften seiner politischen Herrschaft in der russischen Geschichte seit 1989 zu kontextualisieren. Länder wie Russland erscheinen nur in der Perspektive defizitärer demokratischer Ordnung und defizitärer liberaler Kultur und somit als bloße Nachzügler an der Ziellinie des Posthistoire.

Die Analysen von Amlinger und Nachtwey werden durch alles dies nicht schlechterdings falsch. Aber sie sind unangemessen selektiv und in den Wertungen voreingenommen. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie irgendein Bewusstsein davon haben, welchen Preis sie für ihre methodische und thematische Einschränkung zahlen. Denn die Möglichkeit, dass am Ende der kollektive Westen im Corona-Maßnahmenregime und im Ukraine-Krieg krisenhaft von seiner externen und externalisierten Geschichte eingeholt wird, stößt bei den Verfassern auf völliges Unverständnis. Dafür, dass die kapitalistische Dynamik des von den USA hegemonial geführten liberalen Imperiums90Panitch/Gindin 2013 ausgehend vom drohenden Zusammenbruch des globalisierten Finanzkapitalismus91Streeck 2013, 2016, 2021, Hudson 2016, 2021 schließlich an immanente Grenzen stößt und eine krisenhafte Zuspitzung der Verhältnisse einschließlich einer politischen »Notfallreaktion« der westlichen Oligarchen auslöst92Pijl 2021 (nichts ist so billig wie eine Ausrede für politische Verbrechen), fehlt ihnen jeglicher Begriff. Deswegen bleiben sie außerstande, in der von ihnen beschriebenen Protestbewegung einen rationalen Impuls der Gesellschaftskritik zu identifizieren.

Zwar hat die Kritische Theorie das kulturtheoretische Defizit des orthodoxen Marxismus beheben wollen, jedoch um den Preis, die Kritik der politischen Ökonomie nicht mehr weiterzuentwickeln. Nach dem Untergang des Ostblocks schien sie vollends obsolet zu sein und ist bis auf ein dünnes Rinnsal analytischer Schriften wie denen von Michael Hudson oder Wolfgang Streeck ausgetrocknet.

Der Text von Amlinger und Nachtwey schreit durchgängig zwischen den Zeilen laut heraus, wie demonstrativ konform und mainstreamloyal er ist, und wie millimetergenau er einen bestimmten Meinungskorridor der fraglosen Richtigkeit seiner Standpunkte versichern möchte. In der penetranten Wiederholung dieser konformistischen Beschwörungsgeste wirkt die Argumentation wie eine ritualistische Abwehrgeste und verweist auf eine uneingestandene Verunsicherung. Es ist die Penetranz der begründungslosen Präsentation eines diskursiv begründungspflichtigen Standpunkts sowie die dazu komplementäre konsequente Ignoranz der von der »querdenkenden« Gegenseite tatsächlich betriebenen Begründungsaufwände, die den Eindruck einer neurotischen Abwehr der Wiederkehr des Verdrängten und einer Flucht aus der diskursiven Verantwortung erweckt.

Man fragt sich, ob die Unfähigkeit, mit Geltungsansprüchen diskursiv umzugehen, nicht präzise das Grundproblem des »woken« Milieus benennt. Wenn nur noch innere Befindlichkeiten zum Kriterium für Stellungnahmen in Debatten zählen, dann projiziert man das folgerichtigerweise auch auf den Gegner, indem man dessen Befindlichkeiten zu dechiffrieren versucht. Wer seine emotionalen Befindlichkeiten ins Zentrum stellt, kann empört oder »verstört« sein, aber nicht mehr zum argumentativen Duell herausgefordert. Erschreckend ist jedoch, wenn das akademische Lehrpersonal dabei auch noch mitmacht.

»Verstörend« wird genannt, was von der eigenen Haltung abweicht: Eine Rede Putins drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, eine Rede Sarah Wagenknechts im Bundestag, »zutiefst verstörend« eine Äußerung des damaligen Bundesfinanzministers Schäuble. Wer sich diskursiven Kontexten als »verstört« deklariert, unterläuft die Ebene des Arguments und besteht auf seinem emotionalen oder moralischen Rechthaben.

Und hier ist das Buch von Amlinger und Nachtwey selbst das Symptom einer regressiven Pathologie: das Symptom eines verstörten Posthistoire.

Literatur

  • Adorno, Theodor W.; Friedeburg, Ludwig von (2018): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Amlinger, Carolin; Nachtwey, Oliver (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin: Suhrkamp
  • Anton, Andreas (2011): Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien. Berlin: Logos
  • Anton, Andreas (2020): Willkommen in der Paranoia-Gesellschaft! Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona. Zeitschrift für Fantastikforschung 8 (1), 12-19.
  • Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Berlin: Suhrkamp
  • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Ben-Itto, Hadassa (2001): »Die Protokolle der Weisen von Zion«. Anatomie einer Fälschung. Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag
  • Berg, Anna O.; Goetz, Judith; Sanders, Eike (2019): Frauenrechte und Frauenhass. Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt. Berlin: Verbrecher Verlag
  • Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK
  • Boltanski, Luc (2010): Soziologie und Sozialkritik. Berlin: Suhrkamp
  • Brosda, Carsten (2008): Diskursiver Journalismus. Journalistisches Handeln zwischen kommunikativer Vernunft und mediensystemischem Zwang. Wiesbaden: VS Verlag
  • Brumlik, Micha (1992): Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen. Frankfurt a. M.: Eichborn
  • Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Glaubrecht, Matthias (2019): Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten. München: Bertelsmann
  • Habermas, Jürgen (1987): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt: Luchterhand
  • Habermas, Jürgen (1988): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Habermas, Jürgen (1998): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Habermas, Jürgen (2004): Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität. Herbert Schnädelbach zum 60. Geburtstag. In ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 102–137.
  • Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp
  • Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Heidegger, Martin (2018): Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Frankfurt a. M.: Klostermann
  • Hofstadter, Richard (2008): The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. New York: Vintage
  • Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1989): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer
  • Hudson, Michael (2016): Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört. Stuttgart: Klett-Cotta
  • Hudson, Michael (2021): Super Imperialism. The Economic Strategy of American Empire. Third Edition. Dresden: ISLET
  • Hudson, Michael (2022): Destiny of Civilization. Finance Capitalism, Industrial Capitalism or Socialism. Dresden: ISLET
  • Johnson, KC.; Taylor Jr., Stuart (2017): The Campus Rape Frenzy. The Attack on Due Process at America’s Universities. New York: Encounter Books
  • Kießling, Andrea; Diesterhöft, Martin (2020): Infektionsschutzgesetz. Kommentar. 1. Aufl. München: C. H. Beck.
  • Koenen, Gerd (2001): Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967-1977. Köln: Kiepenheuer & Witsch
  • Kramer, André (2014): Vorsicht Verschwörung! Verschwörungstheorien, UFOs, Atlantis und Paläo-SETI im Lichte rechtsextremer Unterwanderung. Lüdenscheid: Gesellschaft zur Erforschung des UFO-Phänomens e.V.
  • Kucklick, Christoph (2008): Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Lockwood, David (2008): Sozialintegration und Systemintegration. In: Peter Imbusch und Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Integration – Desintegration. Ein Reader zur Ordnungsproblematik moderner Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag, S. 35–49.
  • Nozick, Robert (2013): Anarchy, State, and Utopia. With a New Foreword by Thomas Nagel. New York: Basic Books
  • Panitch, Leo; Gindin, Sam (2013): The Making of Global Capitalism. The Political Economy of American Empire. London – New York: Verso
  • Penny, Laurie (2015): Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. Hamburg: Edition Nautilus
  • Pfaller, Robert (2018): Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer
  • Pijl, Kees van der (2021): Die belagerte Welt. Corona: Die Mobilisierung der Angst – und wie wir uns daraus befreien können. Ratzert: Der Politikchronist
  • Röper, Thomas (2022): Inside Corona. Die Pandemie, das Netzwerk & die Hintermänner. Die wahren Ziele hinter Covid-19. Gelnhausen Hailer: J.K. Fischer Verlag.
  • Sammons, Jeffrey L. (Hg.) (2003): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen: Wallstein
  • Scheibelreither, Georg (1999): Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
  • Slobodian, Quinn (2018): Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism. Cambridge – London – Ann Arbor: Harvard University Press
  • Spengler, Oswald (2003): Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: dtv
  • Stegemann, Bernd (2018): Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Berlin: Matthes & Seitz
  • Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012. Berlin: Suhrkamp
  • Streeck, Wolfgang (2016): How will Capitalism End? Essays on a Failing System. London – New York: Verso
  • Streeck, Wolfgang (2021): Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Berlin: Suhrkamp.
  • Voegelin, Eric (1999): Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis. München: Fink (Periagoge)
  • Ṿolḳov, Shulamit (2000): Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München: Beck
  • Wiggershaus, Rolf (1988): Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München: dtv
  • Wizorek, Anne (2014): Weil ein #Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute. Frankfurt a. M.: Fischer

14 Kommentare

  1. Beweis

    Die Autoren schreiben:

    Gendersensible Konventionen zielen auf Inklusivität, sie werden aber von vormals Etablierten als Einschränkung ihrer Freiheit wahrgenommen.

    An der Stelle steige ich innerlich schon aus, weil offensichtlich wird, wie sie gedanklich in die Irre laufen. Denn “gendersensible Konventionen” zielen primär darauf ab “gendersensibel” zu sein, das heißt, den Faktor Gender oder Geschlecht in den Vordergrund zu stellen.
    Das wiederum verursacht das Gegenteil von Inklusiviät, weil es Gruppen ausweist selbst in Kontexten, die nichts mit Geschlechtergruppen zu tun haben.
    Der Aspekt Gender oder Geschlecht wird also aktiv omnipräsent gemacht.
    Diese Omnipräsenz ist wiederum die Voraussetzung für gesellschaftsweite Polarisierung, wie sie der Feminismus immer weiter eskaliert und wie du sie gut beschreibst. Denn würde das Geschlechtliche nicht angemerkt, würde es in vielen Kontexten auch niemanden interessieren. Damit würde aber auch der Feminismus abgeschwächt werden, weil er an dieser Stelle nicht mehr in Form von “Gendersensibilität” vorkäme. Weil er dabei eben inhaltlich gar nichts zu suchen hat.

    Das ganze Benachteiligungsgejammer hinsichtlich “nicht mitgedacht” oder “nicht mitgemeint” ist nur modelliert, um eben den gesellschaftsspaltenden Feminismus umfassend in jede Kommunikation zu penetrieren. Und zwar überall, als Querschnittsaufgabe; in der Schule, am Arbeitsplatz und sonst wo. Die “gendersensible” Sprache wird so zu einem Ausweis für die Gesinnung – und das ist das Gegenteil von Inklusivität.

    Wenn ich jemandem den Satz sage: “Ich fühle mich schlecht und gehe morgen zum Arzt”, dann ist in seinem Kopf gar kein Geschlecht vorhanden. Erst wenn dann jemand nachfragt, ob er sich nun einen Mann oder eine Frau als Arzt vorstelle, modelliert er im Kopf eine jeweils passende Figur mit Geschlecht. Und erst dann entsteht das Thema Gender oder Geschlecht.

    Freiheit entsteht erst da, wo künstliche und interessengeleitete Dogmen wegfallen, wenn sich nichts zur Sache tun. Gendersensible Konventionen sind reines feministischen Machtgehabe.

    • pingpong

      Die Autoren sind vermutlich unabsichtlich ehrlich wenn sie von Inklusivität schreiben. Die Sache mit der Inklusivität ist folgende:

      Invlusivität zerstört Toleranz.
      Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ist IN oder OUT.
      Toleranz bedeutet andererseits genau das was das Wort sagt: man toleriert es. Man muss es nicht billigen (oder gutheißen).
      Um zu inkludieren, muss man es billigen.

      Freiheit entsteht erst da, wo künstliche und interessengeleitete Dogmen wegfallen, wenn sich nichts zur Sache tun.

      Das verschiebt das Problem lediglich zur Frage wann etwas “nichts zur Sache tut”. Die gendersensiblen Erleuchteten werden dir mit großer Vehemenz versichern, dass Geschlecht überall etwas “zur Sache tut”.

      • Ingbert Jüdt

        @pingpong:

        »Unabsichtlich ehrlich« wirkt tatsächlich das ganze Buch – aber so wenig Selbstdistanz darf man bei Soziologen eigentlich gar nicht finden, schon gar nicht bei solchen, die durch Inanspruchnahme der Rubrik »Kritische Theorie« erst recht zur kritischen Distanz verpflichtet sind. Wer »gendersensibel erleuchtet« ist, hat sich einer Religion angeschlossen, keiner Wissenschaft.

    • Ingbert Jüdt

      @beweis:

      Man kann bei diesem Buch tatsächlich an beliebiger Stelle aussteigen, sogar schon auf der ersten Seite, weil sich der Eindruck, den man dort vom Buch bekommt, bis zur letzten Seite nur bestätigt. Ich habe mich auch nur darum bis zum Ende durchgekämpft, weil ich diese Art, Soziologie zu betreiben, als persönliche Beleidigung betrachtet habe.

      »Der Aspekt Gender oder Geschlecht wird also aktiv omnipräsent gemacht.«

      So ist es, und die Verfasser bringen es fertig, das auch selbst ohne einen Hauch von reflexiver Distanz selbst durchzuziehen, man kriegt ein Schleudertrauma bloß vom ständigen Kopfschütteln.

  2. Jochen Schmidt

    Danke für diese ausführliche Rezension!

    Kennt Ihr diese Besprechung hier:

    https://overton-magazin.de/buchempfehlungen/soziologie-der-weltfremdheit/

    “Wer ein Buch lesen möchte, dessen Autoren – bei milder Auslegung – fast drei Jahre unter einem Stein geschlafen haben, der möge bitte zugreifen.”

    Kleiner Scherz zum Einstieg … Auch einige Kommentare dort sind bedenkenswert, z. B. von richard albrecht.

    • Ingbert Jüdt

      @Jochen Schmidt:

      Vielen Dank für den Link – diese Rezension kannte ich noch nicht, und der Autor hat sie sogar schon Anfang November veröffentlicht. Die Pointe mit Carl Schmitt ist mir tatsächlich entgangen, aber sie liegt nahe angesichts des Verdammungsurteils der Verfasser über Giorgio Agamben.

      Den Eindruck, dass »die beiden Autoren zu ebenjener Kaste der linken Brahmanen gehören«, wie Zimmermann schreibt, hatte ich besonders an dieser Stelle des »Kulturzeit«-Beitrags von 3Sat – die markanteste der Stellen, wo die beiden in weihevoller Zeitlupenaufnahme präsentiert werden (dass die Sendung keinen Hauch von Kritik äußert, versteht sich vermutlich von selbst).

      Davon abgesehen wirkt Oliver Nachtwey im Interview wie ein gemütlicher Erklärbär und Carolin Amlinger wie eine engagierte Kunstlehrerin. Allerdings auch mit einem Stil von frontaler Publikumsbelehrung, wie sie vielleicht noch in die 90er Jahre passt, aber nicht mehr in die Krisenepoche von heute.

  3. Jochen Schmidt

    Hier nur eine kleine Ergänzung. Im Artikel oben heißt es:

    “Ich kann gekränkt sein, aber dennoch Recht haben. Ersteres bezieht sich auf meine (sozial)psychologisch rekonstruierbare Motivation, letzteres auf die von mir erhobenen Geltungsansprüche. […] Ein Geltungsanspruch ist also die inhaltliche und logische Ebene einer Aussage (beziehungsweise Sprechhandlung) im Unterschied zur Ebene der psychischen Motivation zu dieser Aussage (beziehungsweise Sprechhandlung).”

    Korrekt. Als Ergänzung hierzu: Amlinger und Nachtwey liefern letztlich nur eine wissenschaftlich getarnte Ad-hominem-Argumentation: Sie setzen immer schon voraus, dass die-und-die Leute (“Querdenker”, “Verschwörungstheoretiker”, …) Unrecht haben mit ihrer Kritik, und beglaubigen diese Voraussetzung damit, dass diese Leute so-und-so psychisch defizitär seien (“gekränkt in ihrer Freiheit / Autonomie / …”). Und diese Diagnose dient Amlinger und Nachtwey dann dazu, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kritik dieser Leute zu unterlassen: Mit psychisch defizitären Leuten kann man halt nicht diskutieren! Q.E.D.

  4. Ingbert Jüdt

    Ich habe jetzt bei Amazon folgende Kurzfassung als Rezension eingestellt:

    Dieses Buch als »schlecht« zu bezeichnen, würde die Pointe verfehlen, denn in erster Linie ist es ein Wissenschaftsskandal. Beginnen wir zunächst mit dem Positiven: bezüglich der verarbeiteten Theorien ist das Buch überaus fleißig und belesen und kann zeigen, dass eine soziologische »Kritische Theorie der Gesellschaft« auch in unserer Gegenwart noch über ein ungebrochen großes analytisches Potential verfügt. Die Art und Weise, wie die kapitalistische und neoliberale »Spätmoderne« dem liberal und individualistisch sozialisierten Subjekt Zumutungen aufbürdet, dessen gesellschaftliche Verursachungen von diesem nur schwer oder gar nicht erkannt werden und daher in ihm – wie nicht Amlinger und Nachtwey, sondern die marxistische Tradition formulieren würde – ein notwendig falsches Bewußtsein erzeugt, wird von den Verfassern präzise herausgearbeitet.

    Worin das Buch jedoch vollständig versagt, ist die radikal einseitige und völlig schamlos eigene Wertsetzungen begründungsfrei einschleppende Auswahl und Beurteilung der empirischen Fallbeispiele. Dass der empirische Schwerpunkt auf Interviews mit Angehörigen der »Querdenker«-Szene liegt, ist dabei noch nicht das eigentliche Problem, denn das könnte angesichts der Aktualität dieser Bewegung eigentlich verdienstvoll sein. Problematisch wird das dadurch, weil die als Maßstab gewählte wertende Unterscheidung zwischen »progressiven« und »regressiven« sozialen Bewegungen (und einer »progressiven« und »regressiven« Modernisierung) nicht auch nur ansatzweise begründet und verteidigt wird. »Progressiv« ist für die Verfasser schlicht und ergreifend alles das, wofür sie selbst Partei ergreifen: in erster Linie penetrante Gender-Sprache und »wokes« Bewußtsein, und »regressiv« alles das, was gleichsam differentialdiagnostisch diesem Muster nicht entspricht oder – horribile dictu – ihm gar zu widersprechen wagt. Vereinfacht gesagt: wer nicht im Verständnis der Verfasser »links« ist, der ist dann eben »rechts«, mit allen Wertungen, die diese Skala implizit mitschleppt.

    Die methodische Todsünde des Buches besteht dabei darin, dass sich die Kritik an den »regressiven« Bewegungen gänzlich in Psychologisierung und Psychopathologisierung erschöpft. Das ist nur dadurch möglich, weil in der Rezeption Kritischer Theorie durch Amlinger und Nachtwey eine scheunentorgroße Lücke aufklafft: der immense von Jürgen Habermas als einem der bedeutendsten Vertreter der Kritischen Theorie betriebene Begründungsaufwand zur Fundierung einer diskursiven Öffentlichkeit und Demokratie in einer Theorie des kommunikativen Handelns bleibt in »Gekränkte Freiheit« vollständig ausgespart. Nur dadurch ist es den Verfassern möglich, die vermeintlich »regressive« Gesellschaftskritik in ihren eigenen, diskursiv ernst zu nehmenden Geltungsansprüchen schlichtweg zu ignorieren und sie stattdessen zu psychopathologisieren.

    Das ist umso schwerwiegender, als man das von den Verfassern aufgebotene begriffliche Instrumentarium mit Leichtigkeit auf ihre eigene feministische Positionierung anwenden und damit insbesondere auch die feministische Bewegung seit den 1960er Jahren als eine zwischen progressiven und regressiven Momenten zutiefst ambivalente Bewegung analysieren könnte. Dann würde sich die im Buch vorgenommene Wertung umkehren und am Ende die »woke« Ideologie selbst als ein regressives Zerfallsprodukt einstmalig emanzipatorischer Bestrebungen erkennbar.
    Stattdessen bringen es Amlinger und Nachtwey fertig, das Prinzip der rationalen diskursiven Öffentlichkeit als Grundlage moderner Demokratie beiläufig als »nostalgische Retrotopie« zu verabschieden und kritische Intellektuelle wie Giorgio Agamben, Bernd Stegemann, Ulrike Guérot, Robert Pfaller und andere als »gefallene Intellektuelle« zu bezeichnen, die nach Ansicht der Verfasser anscheinend Luzifer gleich aus dem progressiven Himmel in eine regressive Hölle gestürzt sind. Auch hier fällt Amlinger und Nachtwey nichts anderes ein, als zu psychologisieren, bis der Arzt kommt – wobei sie sich ganz offensichtlich selber für den Arzt halten. Dabei verwenden sie nicht nur die Semantik einer politischen Religion, sondern es weht auch der Brandgeruch der Inquisition, insofern die beiden gleichsam als Weihbischöfe der woken kulturellen Hegemonie Akte der Exkommunikation vollführen.

    Es ist dieser *Kontrast* zwischen dem analytischen Potential der im Buch vorgestellten Theorien und der den Leser fassungslos zurücklassenden, auf jeden Hauch einer argumentativen Rechtfertigung verzichtenden Wertstellungnahmen der Verfasser selbst, die es dem Rezensenten unmöglich macht, hier zwei oder drei Sterne zu vergeben. Denn der *Skandal* des Buches besteht darin, wie zwei akademische Soziologen es fertigbringen, eine vielversprechend beginnende soziologische Analyse in ein ideologisches *hit piece* umkippen zu lassen, ohne dass dabei auch nur der Ansatz eines Problembewusstseins erkennbar wäre. Die von Amlinger und Nachtwey als »regressiv« denunzierten Querdenker und liberalkonservativen Intellektuellen sind damit nicht nur für das Feuilleton mit »wissenschaftlicher« Autorität zum Abschuss freigegeben, sondern werden gleichsam als »Delegitimierer« faktisch auch für den Verfassungsschutz vorgegart.

  5. Jochen Schmidt

    Nur eine kleine Bemerkung zur Wortwahl: Im Artikel oben heißt es:

    “Die Geltungsansprüche dieser politischen Urteilsbildung werden von den Verfassern ohne Rückgriff auf Argumente in der Sache a priori zurückgewiesen …”

    Ich bin nicht so sicher, ob “a priori” hier der passende Ausdruck ist. Denn “a priori” steht ja im Gegensatz zu “a posteriori”, und beide Termini beziehen sich auf Erkenntnisse (“Erkenntnis a priori vs. a posteriori”). Aber die genannte Zurückweisung durch die Autoren ist ja gerade nicht Erkenntnis-geleitet.

    Ich würde sagen, “ad hoc” trifft es besser: Die genannten Geltungsansprüche ohne Rückgriff auf Argumente in der Sache zurückzuweisen, ist zunächst einmal ad hoc, ferner ist es dogmatisch, und aus der Perspektive der Frankfurter Schule (Kritische Theorie) ist es autoritär.

    Dieser Hinweis betrifft aber nur die Formulierung, nicht den Inhalt.

    • pingpong

      Die Bezeichnung “ad-hoc” verfehlt die systematische Dimension des Problems. Die hier kritisierte Zurückweisung von dissidenten Gedanken ist ja gerade nicht aus der speziellen Situation oder spontan aus dem Moment heraus entstanden (=ad-hoc), sondern das hat tiefere systematische Ursachen.

  6. elmardiederichs

    FYI: https://www.youtube.com/watch?v=Ye3Y2Mzi7Lo

    Das sind die beiden noch mal im Interview.

    • Ingbert Jüdt

      @elmardiederichs:

      Vielen Dank für den Link! Diese Sendung ist ja allerliebst! Mein Kommentar dazu fällt schon bei siebzehn von achtundfünfzig Minuten so lang aus, dass ich im Lauf des Tages einen eigenen Blogartikel draus machen werde.

      • pingpong

        Verschwende bitte nicht noch viel mehr Energie darauf.

        • Ingbert Jüdt

          @pingpong:

          Nachdem ich nun weiß, dass die beiden in einstündiger Live-Rede nichts grundsätzlich anderes sagen als in ihrem Buch, hat meine Seele jetzt erst mal Frieden.

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