Sozialwissenschaftliche Vernunft

Kategorie: Soziologie

Verpatzte Anthropologie

Ein Rezensionsessay zu »Female Choice« von Meike Stoverock nebst kritischen Anmerkungen zur Evolutionspsychologie

Der folgende Artikel ist die überarbeitete und ergänzte Version einer Buchrezension, die im März 2021 als Gastartikel auf dem Blog Alles Evolution erschienen ist. Der dortige Artikel war als erster von zwei Teilen geplant. Für den zweiten Teil habe ich aufgrund der sich damals dramatisch weiter entfaltenden Zeitumstände (aka »Corona«) keine Zeit mehr gefunden, wozu aber auch der Umstand Vorschub leistete, dass mein Hauptinteresse Stoverocks anthropologischer These galt und nicht ihrer Gegenwartsdiagnose.

Inzwischen habe ich mich im Rahmen meines Buchprojekts systematisch mit anthropologischen Modellen der Hominisierung auseinandergesetzt. Aus dieser Auseinandersetzung beziehe ich nicht nur weitere Argumente zur Vertiefung meiner gegen Stoverocks These vorgebrachten Einwände (die neuen Argumente befinden sich hauptsächlich im Abschnitt 5 des Textes), sondern auch Argumente für eine grundsätzliche Kritik an einem engen Verständnis von Evolutionspsychologie, das die spezifischen Merkmale der menschlichen Kultur aus sexuellen Strategien und sexueller Selektion ableiten möchte.

Daher habe ich meine Kritik an Stoverocks Buch um eine Kritik an evolutionspsychologischen Kurzschlüssen in Bezug auf die menschliche Kultur erweitert. Ich stelle die Rolle kultureller Prozesse für die biologische Evolution des Menschen heraus, mit der sich der Vorgang der Hominisierung, also der evolutionären Menschwerdung, besser erklären lässt als mit dem biologischen Reduktionismus eines reinen Sexuelle-Strategien-Modells. Der Titel dieses Blogposts, »Verpatzte Anthropologie«, bezieht sich daher nicht nur auf den Ansatz von Meike Stoverock, sondern auch auf ein solches zu eng gefasstes Verständnis von Evolutionspsychologie.

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Amlinger und Nachtwey bei »Sternstunde Philosophie«

Elmar Diederichs hat mich in einem Kommentar zu meinem vorangehenden Rezensionsessay auf eine Sendung von SRF Kultur vom 26.02.2023 hingewiesen, in der sich Wolfram Eilenberger in einer »Sternstunde Philosophie« mit Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey über »Gekränkte Freiheit« unterhält. Mein Kommentar zu dieser Sendung wuchs beim Zuhören so schnell in die Länge, dass ich einen eigenen Blogpost daraus gemacht habe.

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Verstörtes Posthistoire

Ein Rezensionsessay zu »Gekränkte Freiheit« von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

Die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, beide an der Universität Basel, haben ein Buch vorgelegt, das ein beeindruckend breites Panorama kritischer Gesellschaftstheorien unserer »spätmodernen« Gegenwart mit einer erschreckend engstirnigen Anwendung auf die sogenannte »Querdenker«-Bewegung verbindet. Die Argumentation ist diesbezüglich durchgängig in hohem Grade tendenziös, und das analytische Potential der vorgestellten Theorien wird ausschließlich im Sinne einer Feindbilddefinition enggeführt. Insbesondere übersehen die Verfasser geflissentlich, dass sich ihr eigener Ansatz mit Leichtigkeit auch auf ihre eigene so beiläufig wie penetrant zugleich vorgetragene feministische Positionierung anwenden lässt. Dieser Widerspruch erweist sich jedoch als Schlüssel zum Verständnis ihrer Argumentation, insofern sie vor dem uneingestandenen Hintergrund eines »posthistorischen Bewusstseins« der Verfasser transparent wird, demzufolge die liberalen Gesellschaften des »Westens« keine grundsätzlichen Widersprüche mehr in sich bergen, die zu einem dialektischen Umschlag in eine neue Ordnung drängen würden. Das eklatante Auseinanderklaffen des Anspruchs und Potentials einer kritischen Gesellschaftstheorie einerseits und der Realität eines konformistischen hit piece andererseits lässt sich als Symptom einer Verstörung dieser posthistorischen Gewissheit verstehen.

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