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10. Mai 2020

Den folgenden Text wollte ich eigentlich bei Jala Varietas als Kommentar posten – leider überschreite ich dort die Längenbegrenzung von 5.000 Zeichen. Jala argumentiert in ihrem Blogpost dafür, den 15. März (1991), das Datum des Inkrafttretens des Zwei-plus-Vier-Vertrags, als »Tag der Befreiung« zu begehen. Im folgenden möchte ich erläutern, warum der bisherige 8. Mai für mich durchaus als »Tag der Befreiung« durchgeht. Teilweise beziehe ich mich direkt auf Formulierungen ihres Blogposts.

(1) Dass Deutschland frei geworden sei, bezieht sich zunächst einmal auf die Herrschaft der Nationalsozialisten. Deutschland wurde »frei von« der Naziherrschaft. Dass es nicht frei im Sinne der Erringung seiner nationalen Souveränität wurde, trifft zu, aber das macht den Aspekt der »Freiheit von« nicht falsch oder auch nur nebensächlich.

(2) Dass es auch auf Seiten der Siegermächte Verbrechen gab, insbesondere im Zusammenhang mit der Vertreibung, ist unbestritten. Wenn die Opfer dieser Gewalttaten die Ereignisse gegen und nach Kriegsende nicht als Befreiung empfinden, dann ist ebenfalls nachvollziehbar. Im moralischen Sinne ist diese Gewalt zu verurteilen wie jede andere Gewalt auch. Historisch steht sie im Zusammenhang der von den Nazis in Gang gesetzten Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Insbesondere die Vertriebenen und viele Deutsche im Bereich der sowjetischen Besatzung haben hier – ohne eigenes Verschulden – einen Teil jener »Spielschulden« bezahlt, die die Nazis verzockt haben. Krieg weckt nicht das Beste in den Menschen, darum sollte man keinen anfangen.

(3) Die Formulierung »kein Tag der Befreiung für Deutschland oder die deutsche Bevölkerung« ist mindestens unpräzise. Wer Deutscher (gewesen) ist und wer nicht, richtet sich ja nicht danach, wer von den Nazis »als nicht zum deutschen Volke zugehörig betrachtet« wurde. Das heißt, für den überlebenden Teil der deutschen Verfolgten der Naziherrschaft war der 8. Mai darum schon rein definitorisch ein Tag der Befreiung.

(4) Das Datum des Inkrafttretens des Zwei-plus-vier-Vertrags als Befreiungsdatum zu wählen, kann ich aus mehreren Gründen nicht nachvollziehen:

(a) Zweifellos ist mit der »Wende« eine Befreiung und Befreiungserfahrung verbunden gewesen: aber doch in erster Linie im Sinne einer Befreiung der Ostdeutschen von der staatssozialistischen Diktatur. Und diese Erfahrung ist an den 9. November 1989 geknüpft. Wenn man also der »Wende« als einer Befreiung gedenken möchte, dann kommt hierfür doch eigentlich nur der 9. November in Frage.

(b) Ich als (ehemaliger) Westdeutscher frage mich, welche Freiheiten mir der Zwei-plus-vier-Vertrag verschafft hat, die ich nicht schon vorher hatte – oder nachher wie vorher nicht habe. Meine Regierung wähle ich nachher wie vorher auf dieselbe Weise. Mein Einfluss auf die Politik ist nachher wie vorher derselbe. Die Wirtschaftsordnung ist nachher wie vorher dieselbe, ich könnte höchstens über den Soli jammern. Ein paar schlaue Wessis haben aus der Abwicklung der DDR-Wirtschaft ein Bombengeschäft gemacht, aber die müssten dann wohl eher den Tag der Deutschen Einheit für die Mehrung ihrer Freiheiten feiern. Auch die deutsche Politik hat sich dadurch nicht substantiell geändert: sie ist gegenüber Ansprüchen der USA in der Regel kriecherisch – und wo sie das mal nicht war, wie bei Schröders Weigerung, sich am Irak-Krieg 2003 zu beteiligen, erforderte das politischen Mut, aber nicht den Zwei-plus-vier-Vertrag.

(5) Meine Einstellung zu den USA ist freilich komplexer, als dass sie bloß in einer Kritik des »US-Imperialismus« bestünde – darum folgt nun eine Darstellung meiner ganz persönlichen Sichtweise:

Ich bin »Wahl-Badener« – meine Eltern stammen aus dem Sauerland, ich bin in Schwaben geboren und im Raum Karlsruhe aufgewachsen. Nach der Revolution von 1848, dem ersten Versuch, in Deutschland eine Demokratie durchzusetzen, kam es in der Pfalz und in Baden 1849 noch einmal zu einer zweiten Revolution, die als Badische Revolution und als »Reichsverfassungskampagne« in die Geschichte eingegangen ist. Damals entstand das »Badische Wiegenlied«, dessen erste Strophe lautet: »Schlaf’, mein Kind, schlaf leis’, | Dort draußen geht der Preuß’, | Deinen Vater hat er umgebracht, | Deine Mutter hat er arm gemacht, | Und wer nicht schläft in guter Ruh’, | Dem drückt der Preuß’ die Augen zu.« Damals fand eine historische Weichenstellung der deutschen Geschichte statt, die auf Ausgrenzung immer weiterer Gruppen aus dem beruhte, was jeweils als »Deutschland« deklariert wurde, und die erst 1945 zu einem Ende gekommen ist.

1849 wurden die deutschen Demokraten aus der deutschen Geschichte ausgegrenzt: füsiliert an der Karlsruher Fasanengartenmauer durch die Truppen des »Kartätschenprinzen«, an Typhus gestorben in den Kasematten der Festung Rastatt und – darauf komme ich zurück – ins Exil gezwungen. Fünf Prozent der badischen Bevölkerung sind damals ins Exil gegangen – die meisten davon in die Vereinigten Staaten von Amerika. Seit damals gibt es in den USA die »Forty-Eighters«: die Emigranten der Revolution von 1848/49, die selbstverständlich nicht nur aus Baden kamen, wie der Preuße August Willich (s. u.).

Jener Zug der deutschen Geschichte, der auf Ausgrenzung von »Undeutschen« beruht, hat sich weiter fortgesetzt: im (zweiten) deutschen Kaiserreich wurden sowohl die Sozialdemokraten (»vaterlandslose Gesellen«) stigmatisiert als auch die politisch bewussten Katholiken (»Kulturkampf«, »Ultramontanismus«). Und schließlich, zum Schluss, waren dann die Juden an der Reihe, vorbereitet durch den wilhelminischen Antisemitismus, der eigentlich in Österreich-Ungarn, also Wien, entstanden war, und in Deutschland zu Treitschkes berüchtigtem Ausspruch führte: »Die Juden sind unser Unglück!«

Derweil haben viele der deutschen »Forty-Eighters« im amerikanischen Bürgerkrieg im Offiziersrang auf Seiten der Unionsarmee gekämpft, wie der ehemalige Kommandeur der badischen Revolutionstruppen Franz Sigel, Carl Schurz, Friedrich Hecker, Ludwig »Louis« Blenker, August Willich und Alexander Schimmelfennig, von den vielen Deutschstämmigen im Mannschaftsrang in den Divisionen von insbesondere Sigel und Blenker mal ganz abgesehen.

Nicht nur, aber insbesondere die Vereinigten Staaten haben den deutschen Demokraten von 1849 eine politische Heimat geboten. Und darum sind für mich die Amerikaner, die im Zweiten Weltkrieg nach Europa zurückkehrten, nicht die kulturfremde, fast schon außerirdische Besatzungsmacht, als die sie oft hingestellt werden, sondern eben auch die Enkel derjenigen, die ein Jahrhundert zuvor für Ideen aus dem Land gejagt worden sind, von deren Fehlen sich Deutschland bis 1945 nicht mehr erholt hat. Ein Jahrhundert lang hat der preußisch dominierte Machtstaat immer enger gefasst, was als »deutsch« gelten durfte – und nun wollen Leute wie Hans-Joachim Arndt, der die Vokabel von den »Besiegten von 1945« geprägt hat, und diejenigen, die ihm wie Götz Kubitschek und andere darin folgen, uns einreden, dass wir die Schwundstufe der deutschen Kultur von 1945 als Norm und Maßstab betrachten sollen. Und da mache ich nicht mit!

Und das ist nun auch mein persönliches Verständnis von Patriotismus: es ist ein demokratischer Patriotismus in Verbindung mit einem badischen Lokalpatriotismus, der sich auf eine bestimmte historische Tradition bezieht, nicht auf eine nationalstaatliche Grenze. Wer »Siegerwillkür« beklagt, sollte mit der Willkür der preußisch-deutschen Sieger von 1849 anfangen, und wer von den »Besiegten von 1945« reden will, der sollte von den »Besiegten von 1849« nicht schweigen.

Gemäß der alten Geschlechterallerlei-Tradition »Was wäre ein Blogpost ohne Musik« darf in diesem Kontext »I fights mit Sigel« nicht fehlen.