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25. November 2017

Die um den Hashtag #metoo und die sexuellen Übergriffe Hollywoods entbrannte öffentliche Debatte nimmt an Schärfe zu. Im Deutschlandfunk hat Thea Dorn am 10. November aus Anlass des Hinauswurfs von Kevin Spacey aus »House of Cards« (sowie aus einem Film über Paul Getty) vor zwei Wochen den Vorwurf erhoben, dass wir in einer »hysterisch-bigott hypermoralisierten Gesellschaft« lebten und im Begriff seien, in einen moralischen Totalitarismus zu geraten:

»In so einem System bin ich doch von morgens bis abends nur noch damit beschäftigt zu überlegen, hat mich wer beleidigt, hat mich wer komisch angeguckt, hat mich wer irgendwie genannt, anstatt den Leuten, den Menschen zu sagen: Kinder, das gehört zum Erwachsenwerden, das gehört, um in dieser Welt zu überleben, dass man eine gewisse Abwehrkraft entwickelt.« (Thea Dorn)

»Wir kennen die Wahrheit! Die anderen machen bloß Worte!«

Diese Aussage hat wiederum Georg Diez nicht gefallen, der sie am 12. November auf SPIEGEL Online als eine von mehreren Stellungnahmen »reaktionärer Journalisten« abkanzelt, die angeblich »eine emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklung in einen Kulturkampf« verwandeln wollten, »mit möglichst großen Worten, um von den Phänomenen selbst abzulenken, von den Fakten, von der Wirklichkeit.« Diez sieht sich dabei auf der Seite der »Wirklichkeit« stehen, während die Gegenseite sich »rhetorischer Tricks« bediene und »die Frage nach der Wahrheit grundsätzlich zu vermeiden« suche. Wenn also gegen die Sexismusdebatte der Vorwurf des McCarthyismus erhoben werde, dann sei das eben nicht mehr als »postfaktische Publizistik«, die »einen schiefen historischen Zusammenhang« herstelle.

Am 16. November erscheint einerseits in der »Jungle World« ein Artikel von Paulette Gensler, die der »Me too«-Kampagne die Verharmlosung von Vergewaltigungen vorwirft, »weil sie sie in einer nivellierenden Masse von unterschiedlichsten, wenn auch insgesamt unappetitlichen Vorfällen untergehen lässt«, andererseits in der ZEIT ein Artikel von Carolin Würfel, die gegen Angehörige der Berliner Kulturszene justiziable Anschuldigungen so erhebt, dass sie sich pauschal auf eine Reihe von Personen beziehen lassen, anstatt konkrete Individuen anzuklagen. Würfel hält die neuerliche Sexismusdebatte für historisch bahnbrechend: »Der historische Wendepunkt im Verhältnis zwischen Männern und Frauen steht auch uns, hier in Berlin und hier in Deutschland, bevor.« Ja, das steht so da: es geht nicht um die Unsitten einer exzentrischen und narzisstischen Kulturszene – es geht um Männer und Frauen schlechthin. Zwei Tage später, am 18. November, kontert Sabine Rückert den Artikel ebenfalls in der Zeit unter dem Titel: »Soll das Journalismus sein?«:

»Qualitätsjournalismus recherchiert, prüft den Sachverhalt, die Aussagen und die Validität der Quellen, konfrontiert und hört die Gegenseite. All diese Grundregeln des Journalismus wurden von der Autorin für Effekthascherei außer Kraft gesetzt, und auch von jenen, die das Stück redigiert und betreut haben. Würfels Text ist Aktivismus, kein Journalismus.«

Sabine Rückert

»No women were harmed for this movie!«

Es scheint aber, als würden diese »Aktivisten« ihren Aktivismus durch eine höhere Moral gerechtfertigt wissen. Der Journalistin Würfel geht es, wie erwähnt, um nichts Geringeres als einen »historische Wendepunkt im Verhältnis zwischen Männern und Frauen«. Mit diesem Sendungsbewußtsein steht sie nicht allein. Schon am 12. November hat Andreas Borcholte auf SPIEGEL Online ähnliche Töne angeschlagen, indem er sich nicht scheut, Säuberungsmetaphern ins Spiel zu bringen: »Ein schmutziges System beginnt, sich selbst zu reinigen: Die Konsequenz, mit der die Unterhaltungsindustrie ihre Weinsteins und Spaceys abräumt, ist gut.« Borcholte beschreibt im Detail, was das bedeutet:

»Mit einer Konsequenz, die einige Kommentatoren überhastet oder unsolidarisch finden, werden diese Männer abgeräumt: Sie verlieren ihre Posten, ihre TV-Shows, sie werden aus ihrer Serie herausgeschrieben oder gleich aus einem ganzen Film getilgt: Regisseur und Produzent Ridley Scott lässt Spacey gerade aus seinem aktuellen Film ›All the Money in the World‹ herausschneiden. Mit aufwendigen Nachdrehs wird er durch einen anderen Schauspieler ersetzt. Ein beispielloser Vorgang.«

Andreas Borcholte

Auch Borcholte nimmt auf die Kritik von Thea Dorn Bezug – ähnlich wie Diez hält er sie jedoch nur für »Unbehagen oder Abwehrreflexe« von Leuten, die nicht verstehen, dass es hier gleichsam den Mantel der Geschichte am Zipfel zu fassen gilt:

»Denn in dem jetzt offenbar beginnenden Selbstreinigungsprozess der Entertainment-Branche liegt die große Chance, dem moralischen Reinheitsgebot, das vor allem viele Produktionen propagieren, auch hinter den Kulissen gerecht zu werden.«

Andreas Borcholte

Die Rede vom »moralischen Reinheitsgebot« erscheint ihm dabei gänzlich unverdächtig, denn die große Chance, die er zu sehen meint, definiert er geradewegs als eine Art ökologisch nachhaltiger Kulturproduktion, als eine Kulturindustrie mit sauberem Gewissen:

»So wie man sich mit der Herkunft von Eiern, Fleisch und Milchprodukten im Supermarkt beschäftigt, mit fair gehandeltem Kaffee ebenso wie mit unwürdigen Bedingungen in der Kleidungs- oder Handyherstellung, so darf und muss man sich auch in der Unterhaltungsindustrie für die Würde und Nachhaltigkeit der Produktionsbedingungen interessieren. Und gegebenenfalls das Endprodukt boykottieren.«

Andreas Borcholte

Borcholte spürt das Wehen des Weltgeistes der makellosen moralökologischen Sauberkeit: no women were harmed for this movie! Das Problem daran ist nicht, dass Machtmißbrauch nicht zu beanstanden wäre und offenkundiges Fehlverhalten nonchanlant mit Genie aufgewogen werden dürfte. Das Problem ist, dass ganz und gar nicht klar ist, auf welche Weise sich eine höhere moralische Empfindlichkeit in der Praxis sinnvollerweise installieren ließe. Denn in den historischen Präzedenzfällen, die wir kennen, ist dies üblicherweise durch die Installation eines Regimes von Tugendwächtern geschehen, von Leuten, denen diese höhere Moral qua Amt und Position zugeschrieben wurde und ihnen Handlungskompetenzen einräumte, mit denen sie die gewöhnliche Moral durch diese höhere Moral außer Kraft zu setzen ermächtigt waren. Bin ich hysterisch, wenn ich eine solche Entwicklung fürchte? Nach Erscheinen des nachfolgend besprochenen Textes wohl nicht mehr.

Die revolutionäre Dezision rechtfertigt den Terror

Die bislang schärfste Zuspitzung dieses neuen »antisexistischen« Sendungsbewusstseins lesen wir aus der Feder Jakob Augsteins in seinem Artikel »Rache ist Blutwurst« vom 22. November auf SPIEGEL Online. Augstein eröffnet sein Argument mit dem Bezug auf die Texte von Carolin Würfel und Sabine Rückert, indem er den von Rückert beanstandeten »aktivistischen« Charakter von Würfels Artikel ausdrücklich verteidigt und Rückerts Kritik »ehrabschneidend« nennt.

»Aber gleichwohl ist der Text (Carolin Würfels – dj.) haarsträubend. Und das ist gut so. Er ist so haarsträubend, dass die Redaktion der “Zeit” es gleich selbst mit der Angst bekam. Sie schickte die stellvertretende “Zeit”-Chefredakteurin Sabine Rückert vor, die sich unter dem ehrabschneidenden Titel “Soll das Journalismus sein?” in voller Länge und Breite von Würfels als skandalös empfundenem Text distanzierte.«

Jakob Augstein

Lassen wir dahingestellt, ob Rückert wirklich aus einer Angstreaktion der ZEIT-Redaktion heraus »vorgeschickt« wurde oder ob sie nicht einfach nur den publizistischen Raum erhielt, in einer Kontroverse eine Gegenposition zu formulieren, wie das diskursethisch nur fair ist, und ob sie auf die Grenzüberschreitungen des Textes von Würfel nicht nur schlicht angemessen reagiert hat. Jedenfalls schlägt sich Augstein auf Würfels Seite, denn ihr Text war ihm zufolge

»ein Ruf zu den Waffen. Denn wir brauchen in der Tat eine Revolution. Eine neue sexuelle Revolution. Wie jede Revolution wird auch diese hier nicht ohne Opfer abgehen. Das ist eine Feststellung, keine Rechtfertigung.«

Jakob Augstein

Der letzte Satz des Zitats ist schlicht gelogen, ein formales Dementi, dem die Intention des ganzen Artikels zuwiderläuft. Schauen wir uns an, was für den apologetischen Charakter seines Textes spricht. Zunächst einmal: dass Augstein hier bewusst auf das Phänomen des revolutionären Terrors anspielt, dürfte jedem klar sein, der für zwei Cent historische Bildung genossen hat. Aber was soll das »Revolutionäre« an der »Me-Too«-Debatte sein? Es muss wohl mit dem Umstand zu tun haben, dass das übergriffige Verhalten von Leuten wie Harvey Weinstein und Kevin Spacey für diese mindestens berufliche Folgen hat. Das kann man mit einiger Berechtigung gut finden. Aber einmal abgesehen davon, dass die amerikanische Rechte diesem »Ausmisten« des liberalen Sündenbabels zum Teil begeistert zustimmt und dass es Männer trifft, denen man zuvor die Selbstbezeichnung als »Feministen« hat durchgehen lassen: die Rede von der Revolution zeigt an, dass es nicht nur um Moral geht, sondern um Machtverhältnisse, die sich üblicherweise nicht durch den Austausch von Argumenten, sondern durch das Ausspielen von Einfluß und Drohpotentialen verschieben. Sie zeigt einen Wechsel weg von der Ebene der Argumente und hin zur Ebene der Einschüchterungs- und Sanktionierungschancen an. Sie impliziert eine Aufkündigung zivilisierter Spielregeln zugunsten des Gebrauchs von Bestrafungen, Stigmatisierungen, Enteignungen und anderen Druckmitteln. Sie verweist auf ein dezisionistisches Moment des eigenen Handelns, das eine Aufhebung von Grundrechten ausschließlich für den politischen Gegner vorsieht, indem sie einen Ausnahmezustand deklariert. Carl Schmitt definiert:

»(N)icht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand. Dazu gehört vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. (…) Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmezustand suspendiert der Staat das Recht«.

Schmitt 2004, S. 18

Dass wir mit dieser Deutung nicht zu weit greifen, wird klar, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass Augstein die juristischen Konsequenzen der Falschbeschuldigungen gegen Jörg Kachelmann und Horst Arnold als Kollateralschaden ausdrücklich billigend in Kauf nimmt, in letzterem Fall zudem ausdrücklich unter Kenntnisnahme der indirekten Todesfolge. Er wählt nicht irgendwelche Falschbeschuldigungen, sondern diejenigen beiden, die die gesellschaftliche Perspektive auf das Phänomen der Falschbeschuldigung als solches in der Bundesrepublik nachhaltig verändert haben. Die im Falle der Sexismusdebatte erforderte und beanspruchte feministische Diskurshoheit ist durch diese Verschiebung unter Druck geraten, ihre jahrzehntelange souveräne Geltung steht in Frage. Augsteins in der Sache selbst ungeheuerliche und infame Mißachtung rechtsstaatlicher Grundsätze hat daher Methode: die Methode der Dezision des Ausnahmezustands.

Augstein maßt sich im Namen der Parteiung, die er vertritt, die Rolle des Souveräns an, und zu den Mitteln des Souveräns, eine gegebene Ordnung unter Suspension des Rechts zu verteidigen, gehört der Terror. Was den Revolutionär vom staatlichen Souverän unterscheidet, ist allein der Umstand, dass er die Dezision nicht aus herrschender, sondern aus beherrschter Position heraus vornimmt mit dem Ziel, erstere zu übernehmen. Die emotionale Empörung, die das auslöst, ist bereits Teil der inneren Rationalität des Terrors, Teil seines Kalküls, denn die innere Kälte des Jakobiners und Tschekisten bringt einen Souveränitätsgewinn über die auf diese Weise emotional Überrumpelten mit sich. Die Erstanwendung unerwarteter Gewalt profitiert von ihrer Schockwirkung. Im Ausnahmezustand lassen sich die Machtverhältnisse ohne Ansehung der Rechtsverhältnisse verändern, und genau darum geht es Augstein:

»Aber in der neuen Geschlechterdebatte geht es darum, die Gewichte der Macht zu verschieben – und das geht nicht ohne Gewalt ab. Wer verfügt über die Möglichkeit, den anderen jederzeit und ohne nennenswertes eigenes Risiko zu gefährden oder zu erniedrigen? Bisher waren das immer die Männer. Die Frau, die sich wehrt, wird da zur Schreckensvision.«

Jakob Augstein

Das ist der Schlüsselabsatz in seinem Artikel, in dem er den Terror mit einer Geschichtsklitterung legitimiert. Denn nichts anderes als eine solche ist die Behauptung, nur Männer hätten bislang andere »ohne nennenswertes eigenes Risiko« gefährden können. Die »Urszene« einer weiblichen Falschbeschuldigung finden wir bereits in der Bibel, in der Geschichte von Joseph und der Frau des Potiphar (Gen. 39). Ilse Lenz hat versucht, diese Geschichte im Kontext der Kachelmann-Falschbeschuldigung als »frauenfeindlich« und als eine Art patriarchaler Denunziation beiseite zu schieben, was jedoch nur dann plausibel ist, wenn man Machtverhältnisse, die nicht auf Geschlechts-, sondern auf Klassenunterschieden beruhen (in diesem Fall zwischen Herren und Sklaven, denn Joseph wurde als Sklave verkauft) mutwillig ignoriert. Denn die »die Möglichkeit, den anderen jederzeit und ohne nennenswertes eigenes Risiko zu gefährden oder zu erniedrigen«, hat jeder Angehörige eines ranghöheren Standes gegenüber Angehörigen eines rangniederen Standes ganz unabhängig vom Geschlecht. Es gehört zum Kern des intellektuellen Elends und der tiefen Unaufrichtigkeit der feministischen Ideologie, diese simple Tatsache zugunsten eines ausschließlich auf der Geschlechtszugehörigkeit beruhenden weiblichen Opferkults unsichtbar gemacht zu haben. Ilse Lenz bringt es zudem fertig, ein perfektes Beispiel von Projektion des eigenen Verhaltens auf Männer zu liefern:

»Dieses Bild der potentiell mächtigen Lügnerin ist zutiefst frauenfeindlich. Aber auch das Opfermännerbild ist nicht eben männerfreundlich, läuft es doch auf eine Homogenisierung und Entmündigung aller Männer heraus. Denn dem Bild zufolge ist der einzelne Mann für sein Denken und Handeln nicht länger verantwortlich, sondern der bedrohlich erscheinenden Frau hilflos ausgeliefert.«

Ilse Lenz

Denn dies ist präzise die Botschaft, die der Feminismus spiegelbildlich in Bezug auf Frauen und ihr Verhältnis zu männlicher Gewalt vermittelt: selbst nicht verantwortlich und dem bedrohlich erscheinenden Mann hilflos ausgeliefert. Aber diese feministische Unterschlagung klassenspezifischer Machtverhältnisse ist uns so selbstverständlich geworden, dass Augstein sich darauf als eine vermeintlich fraglose Tatsache beziehen kann. Seine Argumentation ist insofern nur folgerichtig: sie ergibt sich konsequent aus dem vom Feminismus in den 1960er Jahren eingeführten und zum ideologischen Fundament festgestampften Mythos vom Patriarchat, mit dem seither jegliche Art von einseitiger Perspektive, weiblicher Privilegiensicherung und empirischer Blindheit gerechtfertigt wird. Ebenso folgerichtig ist es dann auch, wenn Augstein die »Furcht« – und damit den Terror – nicht mehr nur als faktische Begleiterscheinung konstatiert, sondern im Schlußsatz des Artikels für wünschenswert erklärt:

»Es ist schon so: wenn die Frauen ihre Furcht verlieren sollen, müssen die Männer diese Furcht erst selbst kennenlernen.«

Jakob Augstein

Das ist zum einen die alte Mär vom Geschlechterverhältnis als Hierarchie und Nullsummenspiel, die schon der berüchtigten SPD-Maxime von der »Überwindung der männlichen Gesellschaft« zugrundeliegt. Augstein geht zum anderen aber darüber hinaus, indem er in diesem Satz den revolutionären Terror als legitimes Instrument für diese »Überwindung« ausdrücklich empfiehlt.

Diskursverschärfung und Diskurskündigung

Welchen Sinn macht diese aggressive Verschärfung der Tonlage, dieses Kokettieren mit der Gewalt, für die Augstein bereits einen Präzedenzfall geliefert hat? Und womit kokettiert er eigentlich? Nehmen wir im Schnelldurchgang einige recht willkürlich ausgewählte Beispiele für revolutionären Terror zur Kenntnis:

(1) Französische Revolution:

»Die Richter trafen in aller Heimlichkeit die Auswahl derer, die sie verurteilen wollten oder die zu richten ihnen aufgetragen worden war. Am Abend zuvor wurde diesen Gefangenen in der Conciergerie eine Art von Auszug aus der Anklageschrift ausgehändigt, dem sie entnehmen konnten, dass sie am folgenden Tag vor dem Revolutionsgericht erscheinen würden. Dort fanden sie sich auch tatsächlich zu 50, 60 oder gar 70 an der Zahl wieder und nahmen auf einer Estrade mit fünf oder sechs Rängen Platz. Nachdem man sie nach ihrem Namen, Alter, Stand und Beruf gefragt hatte, wurde ihnen eine pauschale Anklage vorgelesen. Der Form halber stellte man einigen der Angeklagten ein paar Fragen, auf die sie antworteten oder nicht. Dann zogen sich die Geschworenen etwa eine Stunde zu einem Palaver zurück, das sie lächerlicherweise als Beratung bezeichneten. Danach kehrten sie in den Gerichtssaal zurück und erklärten auf Ehre und Gewissen die Angeklagten für schuldig. Innerhalb von zwei oder drei Stunden wurden auf diese Weise 60 oder 70 Menschen zum Tod verurteilt und noch am selben Tag auf dem nämlichen Schafott hingerichtet«

Nicholas Ruault, »Gazette d’un Parisien sous la révolution«, zit. nach Willms 2014, S. 555

(2) Stalinsche Säuberungen:

»Der Befehl Nr. 00447 sah die Verhaftung von insgesamt 268.950 Personen vor, von denen 75.950 erschossen werden sollten. Im Verlauf der Operation wurden die Vorgaben für die Verhaftungen auf 753.315 Personen erhöht, wovon 183.750 (einschließlich 150.500 Erschießungen) durch Beschlüsse des Politbüros des ZK angeordnet und weitere 300.000 Verhaftungen durch ein Telegramm von Jeshow, d.h. ohne weiteren formellen Beschluss der Parteiführung, befohlen wurden. Bis zum Ende der Operation im November 1938 wurden jedoch 767.397 Menschen verurteilt, 386.798 von ihnen nach der ersten Kategorie (Erschießung – dj.). Mehr als die Hälfte der in der ›Anti-Kulaken-Operation‹ gefällten Urteile (50,4 %) waren Todesurteile. Allein zwischen dem 5. und 31. August wurden im Zuge der Anti-Kulaken-Operation – Befehl 00447 – 150.000 Urteile gefällt und 30.000 Menschen erschossen. Parallel zur Massenoperation nach Befehl Nr. 00447, die am 5. August 1937 begann, wurden – Schlag auf Schlag – weitere Massenoperationen, vorwiegend nach nationalen Kriterien, eingeleitet und durchgeführt: Die ›Deutsche Operation‹ nach Befehl Nr. 00439 lief am 29. Juli 1937 an und war verbunden mit insgesamt 55.005 Verurteilungen, davon 41.989 Todesurteile (76,2 %). (…) Die ›Polnische Operation‹ nach Befehl Nr. 00485 begann am 20. August 1937 und war verbunden mit insgesamt 139.835 Verurteilungen, davon 111.091 Todesurteilen (79,4 %). Die ›Lettische Operation‹ begann am 3. Dezember 1937 und war mit insgesamt 22.360 Verurteilungen, darunter 16.573 Todesurteilen verbunden (74,1 %). Die Liste der Befehle und Massenoperationen ist damit noch nicht vollständig. Weitere Operationen betrafen die Rumänen in der Ukraine, Finnen in Karelien, Iraner, Afghanen, Griechen, Esten, Bulgaren, Mazedonier, Koreaner, Chinesen, Harbin-Emigranten und andere meist in Grenzregionen siedelnde nationale Minderheiten.«

Schlögel 2008, S. 637

(3) Spanischer Bürgerkrieg

»Im Spanien der Nationalisten begannen die Repressalien unmittelbar nach der Eroberung eines Gebietes. Die Kriegsgefangenen wurden meist noch an der Front erschossen, die ersten zivilen Opfer waren Gewerkschaftsführer und die Vertreter der republikanischen Regierung, vor allem Gouverneure und Bürgermeister, aber auch andere Beamte, die der Republik treu geblieben waren. Selbst Republikaner, denen man Schonung versprochen hatte, wenn sie sich ergaben, wurden umgebracht. Offiziere, die zur Regierung standen, mussten mit Erschießung oder Einkerkerung rechnen. (…) Wenn die aufständischen Truppen weiter gezogen waren, setze eine zweite, noch heftigere Welle des Tötens ein. Falangisten, in einigen Gebieten auch Karlisten, führten rücksichtslose Säuberungen unter der Zivilbevölkerung durch. Exekutiert wurden Gewerkschaftsführer, Regierungsbeamte, Mitte-Links-Politiker (z. B. wurden 40 Parlamentsabgeordnete der Volksfront erschossen), Intellektuelle, Lehrer, Ärzte, ja selbst die Schreibkräfte, die für Revolutionskomitees gearbeitet hatten. Im Grunde war jeder in Gefahr, den man auch nur verdächtigte, die Volksfront gewählt zu haben. In Huesca wurden etwa 100 Personen erschossen, weil sie angeblich Freimaurer waren. Die Loge der Stadt hatte aber nicht einmal ein Dutzend Mitglieder.«

Beevor 2008, S. 118 f.

(4) Chinesische Revolution:

»Dass wir in der Vergangenheit zwei, drei Millionen (Konterrevolutionäre) getötet, eingesperrt oder überwacht haben, war ausgesprochen notwendig … Heute sind die Konterrevolutionäre weniger geworden, doch man muss zugeben, dass es noch Konterrevolutionäre gibt. Man muss seine Zustimmung geben, dass auch in diesem Jahr einige getötet werden. In Behörden und Schulen ist zu säubern, man darf nicht erschlaffen, sondern muss harte Arbeit leisten.«

Mao Tse-Tung im April 1956, zit. n. Koenen 2017, S. 961

Sind das tatsächlich die Bezüge, die Augstein herstellen will? Es mutet wie ein groteskes Missverhältnis an, die historischen Erinnerungen an diese rücksichtslosen Massenmorde im Kontext einer Sexismusdebatte aufzurufen. Aber es ist Augstein selbst, der per Implikation darauf anspielt. Ist also der »Wille zum Terror«, der sich darin ausdrückt, parasitär oder authentisch? Ist er Programm zum Pogrom oder dreister Bluff? Die Ambivalenz, die in dem scharfen Missverhältnis zwischen der heute aktuellen Situation und den aufgerufenen Erinnerungen liegt, erinnert an den »unernsten«, aber darin auch unaufrichtigen und unverantwortlichen Umgang vieler Feministinnen mit dem SCUM-Text von Valerie Solanas. Ist es geniale Satire oder authentischer Faschismus, wenn man »in aller Unschuld alle Männer töten« möchte, wie Lucas Schoppe das genannt hat? Ich denke, dass wir die Eigenschaften von Augsteins Text dann am Besten verstehen, wenn wir sie als Teil eines Kampfes um die öffentliche Diskursherrschaft begreifen, die die politische und kulturelle Linke lange Zeit innehatte und die sie nunmehr durchaus zu Recht in Gefahr sieht. Denn in solchen Debatten übernimmt die Gewalt, mit der man kokettiert, eine Stellvertreterfunktion für die reale Gewalt, in deren Gegenwart alle Diskurse enden. Sie ist Ausdruck eines Verlusts der inneren Souveränität, der ein realer oder befürchteter Verlust der äußeren Souveränität entspricht, und sie ist darin ein Bindeglied zur realen Gewalt, dass sie eine Disposition zur dieser einübt.

Was in der Medienkritik im Umfeld der Ukraine-Krise zum ersten Mal unübersehbar wurde, hat sich spätestens der Wahl Donald Trumps in den USA und mit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag auf Dauer verfestigt: die jahrzehntelange Hegemonie einer eher links und linksliberal orientierten Medienelite, die sich ihren Platz im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre erkämpft hatte, neigt sich dem Ende zu. Anstatt über inhaltliche Differenzen in den jeweiligen Perspektiven offen zu debattieren, tut nun auch diese Elite, was alle Eliten bisher getan haben: sie schalten aus Reflexen des Machhterhalts und der Besitzstandswahrung heraus in den Modus der taktischen Kommunikation, der Denunziation und der Feindbildpflege um. Das altbekannte Neue an Augsteins Text besteht darin, dass er verbal bereits von der Feinddefinition zur Feindbekämpfung übergeht, indem er eine der mächtigsten Erinnerungsfiguren der modernen Geschichte zustimmend mobilisiert: den Aufruf zum Tugendterror.

So gesehen ist Jakob Augstein ein klassischer Schreibtischtäter, der die moralische Entsicherung einer Kontroverse betreibt, damit andere sich zu weitergehenden Handlungen als bloß scharfen Reden ermächtigt fühlen können. Der Trick an der Sache besteht darin, die Entscheidung zwischen Satire und Säuberung, zwischen Bluff und Pogrom, anderen zu überlassen, die unter »fortgeschrittenen Verhältnissen« der Zuspitzung agieren – einer Zuspitzung, die der Schreibtischtäter selbst freilich mit herbeigeführt hat, ohne die Entscheidungen zur Eskalation selbst getroffen zu haben.

Wie das im Grundsatz funktioniert, hat zuletzt die Attacke auf den Stand des Antaios-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt, die durch Initiativen wie die »Buchmesse gegen Rechts« [Anm. 19.12.2022: Der Link ist erloschen] geistig vorbereitet worden war – offenbar sind erklärte Rechte, die sich nicht mit Baseballschlägern, sondern mit Büchern präsentieren, eine unerträgliche narzisstische Kränkung der eigenen Feindbilder. Wer den Gedanken in Erwägung zieht, dass es hier »die Richtigen« getroffen haben könnte, möge sich daran erinnern, dass die Revolution ihre Kinder frißt und darin bei »den Richtigen« nicht stehen bleibt. Verlage zu bekämpfen anstatt den Inhalt von Büchern offenbart dieselbe Grundhaltung wie ein institutionalisierter Forschungsbereich, der eine Million Euro erhält, um über seine Kritiker zu reden anstatt mit ihnen: ihre Ansichten und Perspektiven werden vorab jeder inhaltlichen Auseinandersetzung für unwürdig erklärt. Das aber ist das Geschäft der Selbstimmunisierung, mit dem sich noch jede Ideologie in die Sackgasse der doktrinären Erstarrung manövriert hat.

Es gibt jedoch Grund zur Hoffnung: Augsteins Anmaßung kann man ebensogut auch als Bankrotterklärung lesen. Der Wechsel von der Ebene der Argumente auf die Ebene der Gewalt räumt faktisch ein, die Ebene der Argumente verloren zu haben. Der Mantel der Geschichte, den Augstein sich und den Seinen umhängen möchte, ist ihnen allen ein paar Nummern zu groß.

Literatur

  • Beevor, Anthony (2008), Der Spanische Bürgerkrieg. München: Goldmann
  • Koenen, Gerd (2017), Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. München: C. H. Beck
  • Schlögel, Karl (2008), Terror und Traum. Moskau 1937. München: Carl Hanser
  • Schmitt, Carl (1922, 8. Aufl. 2004), Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot
  • Willms, Johannes (2014), Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. München: C.H. Beck

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