Sozialwissenschaftliche Vernunft

Nachgedanken zur Berliner Demonstration vom 29. August

(reblogged von »Geschlechterallerlei«)

Am vergangenen Samstag waren meine Lebensgefährtin und ich auf der Berliner Corona-Demonstration. Ursprünglich wollte ich in diesem Blogpost hauptsächlich unsere Beobachtungen schildern – nach all den mittlerweile stattgefundenen Diskussionen und umlaufenden Berichten im Netz hat sich der Schwerpunkt inzwischen sehr stark vom Beobachten zum Reflektieren verschoben. Der folgende Blogpost ist dreigeteilt: im ersten Teil schildere ich unsere persönlichen Beobachtungen, im zweiten Teil versuche ich mich an einer Einschätzung der Demonstration aus meiner in der zeitlichen Differenz einer Woche entstandenen Perspektive und im dritten Teil kommentiere ich den Anlass der Demonstration: das staatliche Corona-Krisenmanagement. Ich danke meiner Lebensgefährtin für eine tagelange, intensive Text- und Videorecherche, ohne die ich als berufstätiger Mensch diesen Blogpost so nicht hätte verfassen können!

Wer die »Impressionen« überspringen und gleich zu den eigentlichen »Nachgedanken« navigieren möchte, kann das über die folgenden Ankerlinks tun:

(1) Impressionen
(2) Das Geisel-Drama Unter den Linden
(3) Auf diese Bilder hat die Republik gewartet
(4) Repräsentation des »Volkes«, nicht des »Pöbels«

Impressionen

Eigentlich sind wir notorische Bahnfahrer, aber wenn man schon dazu angehalten ist, in Massenverkehrsmitteln eine Maske aufzusetzen, dann fällt zwischen fünfeinhalb Stunden Bahn ab Karlsruhe und einer knappen Stunde Flug ab Frankfurt die Wahl nicht schwer. Also am Samstagvormittag hin mit LH0176 und mit LH0183 zurück am Sonntagvormittag. Nachtens ein Hotel Nähe Alexanderplatz. Am Samstag waren wir gerade pünktlich genug, um unser Gepäck im Hotel fallenzulassen und gegen 11:15 Uhr zu Veranstaltungsbeginn Unter den Linden aufzuschlagen. Auf dem Bebelplatz gegenüber der Humboldt-Uni demonstrierte da schon die Antifa, wie üblich erkennbar an der einschlägigen schwarz-roten Doppelfahne auf der Fahne.

Anitfa am Bebelplatz (gegen 11:10)

Der direkte Zugang von Osten zum Start-Areal der Demonstration war am Reiterdenkmal Friedrichs des Großen bereits von der Polizei gesperrt, aber es war ein Umweg über Charlottenstraße, Behrenstraße und Wilhelmstraße möglich, Friedrichstraße und Glinkastraße waren ebenfalls abgeriegelt.

Sperre an der Friedrichstraße (gegen 11:20)

Die Fläche zwischen dem Brandenburger Tor und der Spitze des Zuges beim Alten Fritz war gut besucht, aber von einzelnen Punkten abgesehen gab es kein dichtes Gedränge. Zu diesem Zeitpunkt war schon klar ersichtlich, wie bunt gemischt das Publikum war. Die Zahl an schwarz-weiß-roten Reichsflaggen (in mehreren Gestaltungsvarianten, in Einzelfällen mit Adler, aber hauptsächlich die horizontale Trikolore) war tatsächlich nicht unerheblich, aber nur ein Teil eines sehr breiten Flaggenspektrums, in dem neben der regulären Flagge der Bundesrepublik und denen anderer Nationen (wir haben Polen, Niederlande, Schweden, Neuseeland, Österreich und Argentinien beobachtet) die meisten deutschen Bundesländer, die Wirmer-Flagge, aber auch die Volksrepublik Donezk und allerhand Fantasiefahnen vertreten waren. Ein Spezialfall waren die Kombinationen aus Flaggen der USA und Russlands mit der Reichsflagge dazwischen – dazu gleich noch mehr. Üppig bunte Fahnen und dazu passende T-Shirts waren Erkennungsmerkmal der QAnon-Sektierer, und es gab viele weiße T-Shirts von »Querdenken 711«. Ganz in auffälliges Gelb gewandet waren die Handzettelverteiler von Falun Gong direkt am Brandenburger Tor, aber die machten den Eindruck, als wären sie jeden Samstag dort präsent und diesmal nur zufällig von den Teilnehmern der Demonstration umspült. Es gab eine etwas größere Gruppe, in der dem Augenschein nach alle Flaggen der deutschen Bundesländer, aber auch Reichsflaggen vertreten waren, das war wohl ein organisiertes Auftreten von »Reichsbürgern«. Wir selbst haben uns dann kurz vor Mittag, um einen eigenen Akzent zu setzen und um mit »Reichsbürgern« nicht verwechselt zu werden, eine Fahne der Badischen Republik und des Königreichs Württemberg umgehängt (siehe das obige Beitragsbild des Blogpost).

Ein Epizentrum des Aufmarsches zum Demonstrationszug war die Botschaft der Russischen Föderation. Das hatte mit der Agenda der »Reichsbürger« zu tun, die ja darum so heißen, weil sie der Meinung sind, dass die Bundesrepublik als Staat gar nicht rechtskräftig existiert und wir immer noch im Deutschen Reich leben, weshalb in ihrer Vorstellung ein souveränes Deutschland erst von einem Friedensvertrag konstituiert wird, den sie von den beiden Großmächten USA und Russland fordern. Die erwähnte Dreierkombination von Flaggen soll dementsprechend dieser Forderung symbolischen Ausdruck verleihen, und die größten Hoffnungen scheinen sie dabei in die Russische Föderation zu setzen. Darum also an dieser Stelle eine Flaggenballung der »Reichsbürger«.

Der Demonstrationszug hätte sich um 11:00 Uhr in Bewegung setzen sollen, aber nichts geschah. Kurz vor der Mittagsstunde machte dann das Gerücht die Runde, dass man mit einer Absperrung des Brandenburger Tors rechnen müsse (tatsächlich war es bis 11:20 von einem Polizeikordon gesperrt und wurde dann freigegeben), woraufhin wir uns entschlossen, es darauf nicht ankommen zu lassen und uns auf den Weg zum Zielpunkt des Demonstrationszuges an der Siegessäule machten.

Noch vor dem Brandenborger Tor konnten wir über eine der verteilten Lautsprechersäulen zur Kenntnis nehmen, wie die Polizei dazu überging, aufgrund der dichter werdenden Menschenmenge (die aufgrund des blockierten Starts nicht in die geplante Richtung abfließen konnte) die Einhaltung des Abstandsgebots anzumahnen und eine Maskenpflicht auszusprechen.

Das war ein längerer, gemütlicher Spaziergang mit einem kurzen Zwischenstopp am sowjetischen Ehrenmal.

Um kurz nach 13:00 waren wir am Ziel und schlossen eine Umrundung der Siegessäule an. Auf der Straße des 17. Juni waren in regelmäßigen Abständen Boxen aufgebaut, die es ermöglichen sollten, die zwischen Goldelse und Quadriga erwartete Menschenmenge mit den geplanten Redebeiträgen zu erreichen. Zugleich war es dadurch möglich, über die gesamte Strecke die Redebeiträge von der Spitze des immer noch stillstehenden Demonstrationszuges mitzubekommen. Dort, am Großen Stern, haben wir zu dieser frühen Uhrzeit nur vereinzelt Leute beobachtet, die visuell der rechten Szene zuzuordnen waren.

Wir haben uns dann am Spreeweg ein Plätzchen zum Verschnaufen gesucht, und nachdem es nach einem Weilchen immer noch keinen Hinweis gab, dass der Demonstrationszug gestartet wäre und wir seit fünf Uhr früh auf Achse und mittlerweile doch etwas ermüdet waren, haben wir uns entschlossen, zum Hotel zurückzumarschieren. Den Straßenabschnitt Unter den Linden und die dortige Menschenansammlung haben wir dabei gemieden – allerdings aus dem eminent praktischen Grund, dass wir auf der Suche nach einem Imbiß waren. An der Glinkastraße war immer noch Polizei postiert, aber weg vom Brennpunkt, also von Unter den Linden zur Behrenstraße, konnten wir ohne Wortwechsel passieren. Wir hatten jedoch noch Gelegenheit, zu konstatieren, dass derselbe Wagen der »Querdenker« (Wagen Nummer 15 in der internen Zählung der Demonstration), der mittags noch an der Ecke Friedrichstraße auf der Nordseite in Fahrtrichtung Westen gestanden hatte, am Nachmittag nur die Straßenseite und Fahrtrichtung gewechselt hatte, aber ansonsten nicht vorangekommen war.

Nach einem zweckdienlichen Aufenthalt in den Galeries Lafayette sind wir dann über den Bebelplatz zum Hotel zurückgekehrt, wobei wir die Gelegenheit hatten, dem Schlussredner der Antifa auf einem (inzwischen) nahezu menschenleeren Bebelplatz bei seinen letzten Sätzen zuzuhören, die dahingehend lauteten, dass man sich – »das ist unsere Stadt« – von »den Rechten« nicht »auf der Nase herumtanzen« lasse und beim nächsten Mal hoffentlich hunderttausend Gegendemonstranten auf die Straße bekomme. Im Hotel zurück war der »Live-Teil« der Demonstration für uns damit gelaufen. Wir haben uns dann ziemlich erschöpft erst mal aufs Bett geschmissen und zwei Stunden lang geschlafen – danach waren wir nur noch motiviert genug, um am Alexanderplatz ein gastronomisches Etablissement mit Außenbewirtung aufzusuchen und uns ein wenig zu sedieren. Was währenddessen in der Stadt ablief, haben wir nicht mehr verfolgt, uns fiel nur auf, dass während der ganzen Zeit mehrere Hubschrauber in der Luft waren, die Richtung Zentrum ihre Runden flogen. Erst am nächsten Morgen haben wir dann im Gespräch mit anderen Hotelgästen, die es länger als wir ausgehalten hatten, erfahren, dass es zu jenem »Sturm auf den Reichstag« gekommen war, der dann ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit rückte, und erst, als wir nach Rückflug und Autofahrt wieder in Karlsruhe waren, haben wir systematisch weitere Berichte und erste Analysen zu den Ereignissen verfolgt. Das ist nun Gegenstand der folgenden Betrachtung, die nicht mehr mit direkter, eigener Anschauung verbunden ist.

Das Geisel-Drama Unter den Linden

Als wir uns gegen Mittag auf den Weg zur Siegessäule gemacht haben, haben wir unwissentlich bereits das »Schicksal« dieser Demonstration vorweggenommen. Denn der Demonstrationszug kam nicht von der Stelle, und die Versammlung wurde schließlich von der Polizei wegen angeblicher Nichteinhaltung der Auflagen aufgelöst, sodass die Mehrzahl der Anwesenden schließlich individuell und selbständig zum geplanten Zielpunkt des Demonstrationszuges, der Siegessäule am Großen Stern, aufgebrochen ist. Der Journalist Robert Fleischer hat in seinem Videoformat »Exomagazin.tv« ein ausführliches Interview unter anderem mit den beiden Organisatoren der Demonstration, Nils Wehner und Nadine Müller, veröffentlicht, bei dem es sich um die wichtigste Primärquelle zum Ablauf der Ereignisse bis zur Auflösung der Veranstaltung handeln dürfte.

Den folgenden Zitaten füge ich jeweils die Zeitmarke hinten an. Der Zustrom an Teilnehmern war schon so früh am Vormittag so groß, dass die Veranstalter den Versuch machten, die Demonstration zwanzig Minuten früher zu eröffnen:

»10 Uhr 40 habe ich dem Zugführer, der verantwortlich war für die Versammlung, mitgeteilt, dass ich gern die Eröffnung vorverlegen möchte, um weiteren Zustrom zu verhindern. Das war nicht möglich, man sagte uns, dass die (…) Verkehrspolizei die ausreichende Sicherung der Straßen noch nicht abgeschlossen hätte.«

(5:13)

Es wurde also regulär um 11 Uhr mit einer achtminütigen Rede eröffnet, danach hätte der Zug sich in Bewegung setzen sollen. Stattdessen wurde seitens der Polizei zunächst ohne Angabe von Gründen blockiert:

»Wir wollten 11 Uhr 15 loslaufen, und der Verbindungsmann hat uns aber gesagt, ›so funktioniert das nicht, ich habe Order von oben, ihr könnt nicht loslaufen, fragt mich gerne warum, ich frage dann auch warum‹, weil diese Antwort ›warum‹ kam auf jeden Fall nicht von ihm … und die Antwort von oben war dann, ja der Mund-Nasen-Schutz muss jetzt aufgesetzt werden, denn die Abstände können nicht mehr eingehalten werden, wir sind alle viel zu eng, viel zu dicht, und erst, wenn das umgesetzt wird, besteht die Möglichkeit, dass es beginnen kann.«

(6:33)

Das wurde seitens der Demonstranten zwar als Erpressungsversuch betrachtet, aber um der Sache willen und in der Erwartung, dann starten zu können, waren die meisten bereit, der Anweisung Folge zu leisten:

»Ihr werdet es nicht glauben, es haben 70 Prozent ihre Mund-Nasen-Bedeckung rausgeholt und aufgesetzt.«

(7:40)

Die Erwartung ging auch dahin, dass die Masken wieder überflüssig würden, sobald der Zug in Bewegung wäre und die Abstände sich vergrößern würden:

»Denn in dem Moment, in dem wir loslaufen, entzerrt sich ja alles wieder, und das war auch die Aussage des Verbindungsmannes, wenn wir losgelaufen sind und die Entzerrung stattgefunden hat, kann man die Mund-Nasen-Bedeckung wieder abnehmen, aber dazu kam es ja leider gar nicht mehr.«

(8:06)

Die Polizeiabsperrung am Reiterdenkmal Friedrichs des Großen war von Anfang an so massiv, dass sie nicht zu einer Situation passt, in der ein Demonstrationszug sie hätte passieren sollen. In einem Video vom 2. September hat Michael Ballweg im Gespräch mit Martin Lejeune unter Nennung des Aktenzeichens (Abschnitt 28, Dienststelle A28-0114, Aktenzeichen 05553) auf ein an ihn geleaktes Dokument verwiesen, aus dem hervorgehe, dass der am 29.08. in Kraft befindliche Einsatzplan der Polizei tatsächlich vom 26.08. stammt, also von einer Lage ausgeht, bei der die Demonstration noch verboten war. Dem steht ein Bericht der Berliner Morgenpost vom 05.09. entgegen, in dem es heißt:

»Definitiv falsch sei die Behauptung, bei der Demonstration habe ein Einsatzbefehl gegolten, der für den Fall eines Verbots ausgearbeitet worden sei. Ein solcher Befehl sei nach dem Verbot durch die Versammlungsbehörde zwar tatsächlich ausgearbeitet worden. Nach der gerichtlichen Entscheidung, dass die Demonstration erlaubt sei, sei dieser Einsatzbefehl aber angepasst worden.«

Um so weniger verständlich ist dann aber die tatsächliche Vorgehensweise der Polizei am betreffenden Samstag.

»Also ich habe überhaupt noch nie eine Demonstration gesehen, einen Aufzug, der derart mit Absperrungen eingekesselt wurde. Also das waren feststehende Absperrungen (…) es waren am Wagen 1 vorn an der Spitze des Zuges waren in der Seitenstraße schon vier Wasserwerfer vorinstalliert, schon von Anfang an, und diverse, also mindestens zehn gepanzerte Fahrzeuge der Polizei, also man hatte hier von Anfang an das Gefühl, die wollen uns gar nicht starten lassen.«

(13:00)

Die unter »Normalbedingungen« übliche Autonomie des Zugführers der Polizei vor Ort war in diesem Fall zudem aufgehoben – der eigentlich zuständige Zugführer, der unter »normalen« Umständen einer Demonstration selbständig nach eigenem Ermessen und nach Sachlage entscheidet, wurde in diesem Fall offensichtlich mehrfach von höherer Ebene gegängelt und übergangen. So waren die Organisatoren beispielsweise über ihren Anwalt über die schlussendliche Anordnung der Polizeiführung, die Veranstaltung aufzulösen, früher informiert als dieser Zugführer. Tatsächlich stellte sich heraus, dass in diesem Fall ein zweiter Polizeizug zugegen war, der dem Führer des ersten Zuges offenbar übergeordnet war. Nadine Müller schildert ihren Eindruck von diesem ersten Zugführer so:

»Also ich hatte das Gefühl, als wenn man in einem Praktikumseinsatz seine Abschlussprüfung macht, unter der Anleitung eines Mentors. Er war weder ortskundig, noch schon lange im Dienst, noch hatte ich das Gefühl, dass er jemals schon so einen riesigen Einsatz geleitet hat, hatte immer jemanden an seiner Seite stehen, der ihn korrigiert hat, der ihm Tipps gegeben hat, also es war kein Vergleich zum 1. 8., es war absolut ein unerfahrener Mensch«.

(32:56)

Das ist plausibel, wenn diesem Zugführer ohnehin keine Ermessensfreiheit zugestanden wird, weil die tatsächlich ausgeübte Polizeitaktik von höherer Ebene auf ein ganz anderes Ziel als einen ordnungsgemäßen Ablauf ausgerichtet war. Diese Konfusion der Kompetenzen spiegelt sich auch im Augenblick der Auflösung der Veranstaltung wider:

»[Nils Wehner:] Als uns von diesem zweiten Polizeizug mitgeteilt wurde, über den Anwalt, dass die Versammlung jetzt aufgelöst ist, bin ich am Zugführer vorbei, also der, der für uns zuständig war, und habe von ihm die Anweisung bekommen, ›Bitte sagen Sie noch mal durch, die Abstände sollen eingehalten werden!‹, dies und das und jenes, und da habe ich zu ihm gesagt, ›also Moment mal, ich sage jetzt gar nichts mehr durch, denn diese Versammlung ist aufgelöst, und wenns keene Versammlung mehr gibt, dann gibts ooch keene Maskenpflicht oder irgendwas mehr für die Leute im Freien‹. Da sagte er zu mir: ›Die Versammlung ist aufgelöst?! Davon weiß ich doch überhaupt gar nichts!‹(…) [Nadine Müller:] Und dann sagte er noch: ›Sie wollen jetzt die Versammlung auflösen?!‹ Da sagte ich: ›Nein! Ihr habt die Versammlung aufgelöst!‹ Und da fragte er nochmal ›Wollen Sie die Versammlung jetzt auflösen?!‹ Ich sage ›Nein, wir wollen jetzt loslaufen! Aber ihr habt aufgelöst!‹«

(13:40)

Den Sinn hinter dieser Vorgehensweise der Polizei hat Thomas Moser in einem Telepolis-Artikel vom 30.08. schon bündig zusammengefasst: »Durch ihre Blockade des Demozuges führen die Träger des staatlichen Gewaltmonopols eine Situation herbei, die ihnen die Möglichkeit gibt, den Zug weiter zu blockieren.« Und schließlich aufzulösen. Es ist davon auszugehen, dass dies von Anfang an der Wille der politischen Leitung der Berliner Polizei gewesen ist. Und ja, das ist eine »Verschwörungstheorie«. Denn dass es eine Verschwörung des Innensenators Geisel gegen die Aufhebung des Demonstrationsverbots durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg gegeben hat, steht angesichts des Verhaltens der Polizei vor Ort außer Zweifel.

Dass die Demonstration aufgelöst wurde, führt nun folgerichtig auch dazu, dass es keine Bilder und Videos des von »Querdenken« angemeldeten Demonstrationszuges gibt, denn was nicht stattfindet, das kann man auch nicht filmen und fotografieren. Wie überaus passend also, dass sich die mediale Aufmerksamkeit nunmehr auf andere Demonstranten richten kann, deren Anliegen und Agenda mit denen der gleichsam der cancel culture zum Opfer gefallenen »Querdenken«-Hauptveranstaltung keineswegs übereinstimmen: Auftritt der »Reichsbürger«!

Auf diese Bilder hat die Republik gewartet

Was Frank Richter, parteiloses Mitglied der SPD-Fraktion im sächsischen Landtag, am 1. September im Deutschlandfunk sagte (01.09.2020, 08:15): »Bilder wie die vom Reichstagsgebäude werden bewusst produziert, um zu provozieren und die Menschen in helle Aufregung zu versetzen«, gilt in beide Richtungen: Auf der einen Seite will die Szene der »Reichsbürger« natürlich einen symbolischen Sieg erringen und sich selbst als Helden eines nationalen Widerstands inszenieren. Auf der anderen Seite ermöglichen es dieselben Bilder den Mainstream-Medien und den politischen Akteuren, die Öffentlichkeit mit umgekehrtem Wertungsvorzeichen »in helle Aufregung zu versetzen«. Der Wert dieser umgekehrten Aufregung besteht darin, dass die Fokussierung der öffentlichen Wahrnehmung der Berliner Demonstration auf den »Reichstagssturm« jegliche Ambivalenzen dieser Wahrnehmung tilgt und eine scheinbare Eindeutigkeit herstellt, die so vor Ort überhaupt nicht bestanden hat. Das arbeitet einer manichäischen Weltsicht zu, die wie im Falle der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken Kritiker des politischen Corona-Krisenmanagements pauschal als »Covidioten« hinstellen möchte. Was also, wenn die Berliner Polizeiführung womöglich gar nicht allzu scharf darauf gewesen wäre, jegliche Annäherung von Extremisten an den Sitz des deutschen Parlaments zuverlässig zu unterbinden? Beginnen wir mit einem weiteren Zitat von Nils Wehner aus obigem Interview (ab Minute 22:00):

»Das ist Punkt eins, dass das [am Reichstagsgebäude] eine ganz andere Versammlung gewesen ist, und Punkt zwei ist, dass wir schon vor dem 1. 8. von diversen Menschen gebeten worden sind, mit zu organisieren, diesen Reichstag zu stürmen. Das haben wir auch breit kommuniziert mit Michael Ballweg und mit der gesamten Orga und haben das auch der Polizei mitgeteilt, dass es also solche Anfragen gegeben hat, ob man Umzugswagen auch schon am 1. 8. nutzen kann, um in dem richtigen Moment diesen Aufruf zum Sturm des Reichstags stattfinden zu lassen. Das haben wir natürlich kategorisch abgelehnt, kommuniziert, darauf hingewiesen, und dann eben auch der Polizei das mitgeteilt. Also wir haben gesagt, wir würden uns wünschen, dass ihr da versucht, dass ihr da ein Auge drauf habt und dann hat man uns aber gesagt, ok, laut Versammlungsrecht kann jeder an einer Versammlung teilnehmen, also so wie nach dem Motto, da will jemand ein Haus anzünden, ja, da müssen wir aber erst mal warten, bis das brennt! Ja, also vollkommener Blödsinn.«

(22:00)

Auch die Sendung »ZDF Frontal 21« vom 04.09.2020 (unten eingebettet) weist darauf hin, dass Überlegungen zu einem Sturm auf das Gebäude alles andere als ein Geheimnis waren: »Dort [vor dem Reichstagsgebäude] herrscht gegen 12 Uhr noch ziemliche Ruhe. Es ist die Ruhe vor einem angekündigten Sturm – seit Tagen wurde in Chats mobilgemacht.« (3:16) Und auch ein Artikel in der ZEIT vom 31. August weiß zu berichten: »Im Internet gab es Tage vor der Demonstration Aufrufe, das Gebäude zu stürmen, alternativ das Kanzleramt. Davon wusste der Verfassungsschutz, davon wusste auch die Berliner Polizei.« Das kann auch erklären, warum Kameras der öffentlich-rechtlichen Sender bereits am Nachmittag auf das Gebäude ausgerichtet waren, obwohl dort stundenlang nichts nennenswertes passierte.

Nun wurde vielfach darauf hingewiesen, dass neben den »Reichsbürgern« auch Anhänger des »QAnon«-Verschwörungsglaubens zahlreich auf der Demonstration vertreten waren. Soweit ich sehe (ohne freilich einen auch nur annähernden Überblick über alle Veröffentlichungen zu haben), ist bislang aber nicht zur Sprache gekommen, inwieweit dieser »Reichstagssturm« tatsächlich in unmittelbarem Zusammenhang mit den QAnon-Sektierern steht. Für einen Überblick über den Inhalt dieses Verschwörungsglaubens ist dieser Artikel von Christian Röther im Deutschlandfunk geeignet:

»Die Kurzfassung: Eine verdorbene Elite aus demokratischer Partei, Banken, Medien und so weiter herrsche heimlich über die USA. Und Donald Trump sei von ranghohen Militärs dazu auserwählt worden, diesen ›Tiefen Staat‹ zu Fall zu bringen. (…) Es gleicht der Auslegung religiöser Botschaften. Denn Donald Trump kommt bei QAnon eine ganz besondere Rolle zu: Er soll die Welt vom Bösen befreien. ›Ich bin der Auserwählte‹, sagte auch Trump selbst. Zwar in einem anderen Kontext, aber das ist den Q-Gläubigen egal. Trump befeuerte das Ganze auch, indem er bei Twitter schon mehrfach Q-Botschaften verbreitete.«

Dazu gehört auch eine modifizierte Neuauflage der Legende vom jüdischen Ritualmord:

»Adrenochrom – das ist ein Produkt des menschlichen Stoffwechsels. Bei QAnon behaupten sie, der Tiefe Staat würde Kinder in unterirdischen Gefängnissen halten, um ihnen Adrenochrom abzuzapfen. ›Und dieses Adrenochrom brauchen laut QAnon angeblich die bösen Eliten, der Deep State, um davon high zu werden.‹ Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre und gefährlich: Denn hier nutzt QAnon altbekannte antisemitische Motive, so der Journalist Hannes Stein: ›Das ist wirklich die mittelalterliche Ritualmordpropaganda. Es gibt ja diese Darstellungen auch, wo Juden das Blut von Kindern aussaugen. Also das ist ein ganz tiefes Bild, was da beschworen wird.‹«

Ich hatte oben angedeutet, dass die Dreierkombination einer amerikanischen, einer russischen und einer Reichsflagge als Symbol dafür steht, dass die Reichsbürger, die insbesondere vor der russischen Botschaft »Jetzt! Frie-dens-ver-trag!« skandierten, einen solchen Vertrag von den USA und Russland einfordern. Im QAnon-Glauben ist der derzeitige Präsident der USA, Donald Trump, aber auch ein Messias, und von diesem Messias erwartet zumindest ein Teil der »Reichsbürger« offenbar die Erlösung Deutschlands in einen nach ihrer Meinung bislang inexistenten souveränen Staat. Dieser Kontext kann erklären, wieso die im folgenden Videoclip aufgenommene, absurde Szene zum Auslöser des »Reichstagssturms« werden konnte – ein Mann mit Megaphon verkündet exakt diese auf Trump bezogene Erlösungsbotschaft:

https://youtube.com/watch?v=HFTGX2Zesds

»Also liebe Menschen, bitte bleibt hier! Präsident Trump ist in der Botschaft! Er erwartet unseren Willen, hier den Friedensvertrag zu unterschreiben! Wenn ihr alle geht, haben [unverständlich] benötigen. Bitte holt alle hierher auf diese Wiese! Präsident Trump ist in der Botschaft! Keine fünf Minuten von hier, er wartet auf uns!«

(0:43)

Das führt dann zu dem in Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Erlösung mit überkippender Stimme vorgetragenen Aufruf von der zur »Reichsbürger«-Szene zählenden Heilpraktikerin Tamara Kirschbaum auf der von der Gruppierung »Staatenlos« zur allgemeinen Nutzung bereitgestellten Bühne:

»Trump! Ist in Berlin! Die ganze Botschaft ist hermetisch abgeriegelt! Wir haben fast gewonnen! Wir haben fast gewonnen!! Wir brauchen Masse!! Wir müssen jetzt beweisen, dass wir alle hier sind! Und wir gehen da drauf [auf die Stufen des Reichstags]! Und holen uns heute! hier! und jetzt! unser Haus zurück!«

(1:08)

Daraufhin überwanden die Anwesenden die Absperrungen vor dem Reichstag und postierten sich auf der Treppe, wo die entsprechenden, mittlerweile allgemein bekannten Bilder entstanden. Freilich sind auch jetzt noch Differenzierungen anzufügen. Erstens: anders als das bei gestandenen, harten Neonazis zu erwarten gewesen wäre, handelte es sich nicht um einen Versuch, das Reichstagsgebäude selbst zu stürmen. Es ging nicht darum, in der Art eines Staatsstreichs – etwa nach dem Vorbild der Besetzung des Winterpalais 1917 – den Sitz des deutschen Parlaments in Besitz zu nehmen, sondern darum, eine symbolische Vorbedingung für die vom politischen Messias erwartete Erlösung zu erfüllen. Zweitens: es gab auch hier keine kollektive Grundstimmung der Gewaltbereitschaft. Das ist immerhin auch der ZEIT aufgefallen, die in einem Artikel vom 31.08. einen Polizisten zitiert:

»Doch das war kein Sturm, es war ein Mob, der aus dem eingezäunten Demonstrationsgelände ausbrach, nachdem eine – dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz bekannte – Heilpraktikerin aus der Eifel ins Mikrofon gebrüllt hatte. Die mitrannten, hinterfragten die Äußerungen der Rednerin ebenso wenig wie schon so viele Wortmeldungen zuvor an diesem Tag und auf dieser Bühne: etwa, als der Ex-NPDler Rüdiger Hoffmann von satanischen Hubschraubern sprach oder als Attila Hildmann antisemitische Verschwörungsmythen strickte. Sie liefen einfach los und wussten dann selbst offenbar nicht so genau, was tun. ›Die Kollegen da oben waren mutig, aber ganz ehrlich: Wenn da 200 Leute reingewollt hätten, dann hätten sie die überrannt‹, sagt ein Polizist, der an dem Tag im Einsatz war.«

Derselbe ZEIT-Artikel diskutiert auch die Frage, wo denn in diesem Augenblick die Polizei war. Mit dem Mythos des »Sturms« ist ja unmittelbar auch der Gegenmythos von den »drei Helden vom Reichstag« verbunden, die prompt am nächsten Tag von Bundespräsident Steinmeier für ihren Einsatz belobigt wurden. Nicht nur die »Reichsbürger«, auch die Republik hat damit eine passende Symbolik zum Ereignis erschaffen. Nach Aussage von Andreas Geisel wurden die zum Zeitpunkt des Ereignisses fehlenden Einsatzkräfte aufgrund von Ausschreitungen vor der russischen Botschaft benötigt.

Ein Beispiel dafür, wie die Ereignisse vom 29. August auf die betreffenden Extremisten reduziert werden, bietet die Sendung ZDF Frontal 21 vom 04.09.2020: »Ohne rechten Abstand – Die Corona-Demo in Berlin«. Der achtminütige Beitrag eröffnet mit einer isolierten Krawallszene vor dem Brandenburger Tor gegen 10:45, als dieses noch von der Polizei gesperrt war. Das dient der Fokussierung auf drei Akteure der Reichsbürgerszene: Matthäus W., »ein rechter Youtuber«, Rick Wegner, »in die rechtsextreme Szene gut vernetzt«, und Nikolai Nerling, »ein selbsternannter Volkslehrer«, und sodann der Fokussierung auf den Reichstag. Nun folgt die oben bereits zitierte Aussage: »Dort herrscht gegen 12 Uhr noch ziemliche Ruhe. Es ist die Ruhe vor einem angekündigten Sturm – seit Tagen wurde in Chats mobilgemacht.« Dann wird auf die Hauptveranstaltung umgeschaltet. Die von der Polizei ausgesprochene Auflösung der Veranstaltung wegen angeblicher Nichteinhaltung der Auflagen wird im O-Ton, aber ohne jede Bezugnahme auf den oben ausführlich geschilderten Kontext wiedergegeben. »Die Organisatoren rufen dazu auf, sich den Anweisungen zu widersetzen. Weil Corona für sie nicht existiert, kommen Masken nicht in Frage.« Damit wird die Hauptveranstaltung in einer Art, die man kaum als Halbwahrheit bezeichnen kann, mit dem Klischee des »Covidioten« und »Corona-Leugners« assoziiert, und die Verantwortung der Polizeiführung für die entstandene Situation schlichtweg unterschlagen. Als nächstes wird ein aufgebrachter Reserveoffizier der Bundeswehr von der Kamera aufgefasst und sein Wutausbruch mit der Bemerkung kommentiert: »Die Friedrichsstraße zur Mittagszeit – ein Hauch von Staatsstreich liegt in der Luft. Die Demo-Veranstalter wollen das nicht gern im Fernsehen sehen.« Anschließend wird Michael Ballwegs basisdemokratisch gemeinte Aufforderung, eine »verfassungsgebende Versammlung« zu bilden, mit der nur scheinbar gleichlautenden Forderung der Reichsbürgerszene gleichgesetzt und der inhaltliche Unterschied zwischen einer Weiterentwicklung und einer Abschaffung der demokratischen Verfassung dem Erdboden gleichgemacht. Damit hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen nun auch die Hauptveranstaltung in die Nazi-Ecke gerückt und kann zu den Tumulten an der russischen Botschaft und dem »Reichstagssturm« überleiten. Schlusswort und Bilanz lauten sodann: »Abzug der Verlierer – das Kaiserreich, es bleibt Geschichte!«

Das ist recht genau das tendenziöse hit piece, das man seitens der Mainstream-Medien erwarten konnte. Allerdings ist im Verlauf der letzten Woche auch eine wahre Flut von Artikeln und Beiträgen entstanden, die sich keineswegs pauschal über diesen Kamm scheren lassen – viele Journalisten bemühen sich tatsächlich um eine ausgewogene Einschätzung der Ereignisse, die immer wieder auch Verständnis für eine Kritik am Corona-Krisenmanagement erkennen lässt. Damit können wir zum dritten Teil dieses Blogpost übergehen.

Repräsentation des »Volkes«, nicht des »Pöbels«

Mittlerweile mag sich der eine oder andere Leser die Frage gestellt haben, was um alles in der Welt wir denn auf einer Demonstration von »Corona-Leugnern«, »Covidioten« und »Reichsbürgern« zu suchen hatten, zumal man sich ja kaum über einen Mangel an Berichterstattung vor Ort beklagen kann und unsere eigenen, direkten Beobachtungen sich in ähnlicher Weise dutzendfach im Netz finden lassen. Zunächst einmal: wir sind weder der Ansicht, dass der Corona-Virus ungefährlich sei (unbeschadet der aktuellen Frage, ob er derzeit zu einer gewöhnlichen Erkältung mutiert), noch sind wir der Ansicht, dass die Corona-Krise eine politische Inszenierung zur Einführung einer »Neuen Weltordnung« ist, noch sind wir der Ansicht, dass unsere Regierung beim unvermeidlicherweise improvisierten Krisenmanagement nur Mist gebaut hätte. Auch sind wir grundsätzlich bereit, der Regierung ein gewisses Maß an improvisierten Notstandsmaßnahmen unter der Randbedingung unsicheren Wissens zuzugestehen.

Aber zugleich sind (erstens) die wirtschaftlichen Folgen des »Lockdowns« so gravierend, dass wir nicht länger in einer Wirtschaftsordnung verharren können, die in eine tiefe Krise stürzt, sobald nichtökonomische Kollektivgüter wie die medizinische Versorgung und der Schutz der Gesundheit überraschend eine überragende Priorität erhalten müssen. Zweitens erkennen wir nicht, dass unsere Regierung aus dem Stadium der Notstandsmaßnahmen in ein Stadium langfristig vorausschauender Reform-Maßnahmen überginge. Drittens erkennen wir nicht, dass sich unsere Regierung in Bezug auf eigene Fehler, Versäumnisse und Fehleinschätzungen während des Krisenmanagements ehrlich macht – so, wie sie sich auch schon bezüglich der Finanzkrise von 2009 und der Flüchtlingskrise von 2015 nicht ehrlich gemacht hat. Und viertens beobachten wir mit wachsendem Entsetzen, wie nicht nur unsere Regierung, sondern Politik, Medien und Kultur insgesamt in zunehmendem Maße bereit sind, berechtigte Kritik und nachvollziehbare Sorgen der Bevölkerung unter dem Vorwand zu ignorieren und zu diffamieren, dass sie (angeblich oder tatsächlich) in einem politisch rechtsgerichteten Vokabular interpretiert und zum Ausdruck gebracht werden.

Dirk-Oliver Heckmann, der den bereits zitierten Frank Richter für den Deutschlandfunk unter dem Titel »Kippt die Republik nach rechts?« interviewte, stellt in seinem Beitrag einleitend die Frage:

»Setzt sich der Trend der Abwendung von Teilen der Bevölkerung von der repräsentativen Demokratie fort, der sich erstmals in der PEGIDA-Bewegung massiv zeigte?«

Die ZDF-Fernsehsendung »Frontal 21« hat, wie wir oben gezeigt haben, diese Frage auf dem Weg der Denunziation beantwortet, indem sie jede Kritik an der repräsentativen Form Demokratie als den Versuch einer Abschaffung der Demokratie als solcher bewertet. Aber die repräsentative Form der Demokratie war seit jeher eine Krücke: sie beruft sich auf ein abstraktes »Volk« aus Angst vor dem konkreten »Pöbel«, sie führt Volksvertreter ein, um das Volk nicht direkt regieren zu lassen. Der französische Konservative Joseph de Maistre spottete im Jahre 1794, während der Französischen Revolution, über die soeben eingeführte Demokratie:

»Das Volk, so sagt man, übt seine Souveränität vermittels seiner Repräsentanten aus. Man beginnt das zu verstehen. Das Volk ist ein Souverän, der seine Souveränität nicht ausüben kann.«

zit. n. Philip Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie

Man kann, wie de Maistre, daraus die Folgerung ziehen, die Demokratie als Ganze zu verwerfen, und wer wie die »Reichsbürger« bereit ist, die Fahne der deutschen Demokratie von 1848/49 gegen die Fahne des preußischen Kartätschenprinzen auszutauschen, der diese erste demokratische Revolution im Blut ersäuft hat, dem unterstelle auch ich, dass er die Rückkehr in einen autoritären Staat wünscht. Michael Ballweg hat demgegenüber klargestellt, dass er das Grundgesetz für »das Beste, was uns bisher passiert ist«, hält. (16:02)

Soviel hätte auch »Frontal 21« herausfinden können, anstatt die Lüge in die Welt zu setzen, Ballweg würde »dasselbe wie die Reichsbürger« fordern:

»Hauptredner Michael Ballweg spricht auf einer weit entfernten Bühne. Es geht ihm längst um viel mehr als Corona. Das Grundgesetz soll ersetzt werden – über den Platz schallt die Aufforderung zur Selbstermächtigung. (…) Das fordern auch Reichsbürger«

(5:48)

Traditionellerweise gab es bei politischen Demonstrationen eine weitgehende Übereinstimmung von Programmatik, Aktionen, Organisation und Publikum – es gab mithin nur einen wohldefinierten kollektiven Akteur. Das Neuartige an den »Corona-Demonstrationen« besteht darin, dass auf ihnen mehrere unterschiedliche kollektive Akteure aufeinandertreffen und sich durchmischen, ohne dabei aufeinander loszugehen. Aus der Sicht unserer politischen Repräsentanten ist das beunruhigend, weil es die Unterscheidung zwischen »Volk« und »Pöbel« verwischt und sich nun die Frage stellt, ob man den »Pöbel« zum »Volk« zulassen oder nicht vielleicht doch lieber das »Volk« zum »Pöbel erklären soll. Ein politisches »Reinheitsgebot« kongruenter kollektiver Akteure für Demonstrationen einzufordern würde bedeuten, jede erfolgreiche politische Mobilisierung der Mitte, die auch für politisch »rechte« Kräfte attraktiv ist, letztlich an einer »Nazi-Schallmauer« scheitern zu lassen. Zumal die Deutungshoheit darüber, wer oder was »rechts« ist, auch unrechtmäßig usurpiert werden kann.

Wenn ich am Nordpol stehe, dann ist per definitionem jede Himmelrichtung Süden. Wenn ich mich am äußersten linken Rand positioniere, dann ist per definitionem jeder »rechts«, der nicht meiner Meinung ist. Und genau das ist die Form, die der »antifaschistische Konsens« der Bundesrepublik heute angenommen hat.

Literatur

Manow, Philip (2020), (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Berlin: Suhrkamp

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  1. Gendern, bis der Arzt kommt

    Ich war an dem Tag auch zufällig in der Gegend. Gegen 21 Uhr bin ich zur Goldelse gegangen und habe mir das Ganze mal angeschaut. Bin auch mit zwei Leuten ins Gespräch gekommen, die mir zwar ein bißchen paranoid erschienen, aber normale Leute waren. Einer hat dann auch sein Handy gezückt und stolz den Sturm auf den Reichstag gezeigt, den er aufgenommen hatte. Ich fand das damals lustig, auch in Ermangelung offizieller Berichterstattung.

    Diese Panikmache ist natürlich völlig lächerlich. Das habe ich schon vor den hier geschilderten zusätzlichen Details so gesehen. Dieses Medienmilieu ist einfach hoffnungslos verkommen. Selbst One Six in Amerika war beileibe nicht der Staatsstreich, zu dem er hochgeschrieben wurde.

    Es ist eine allgemeine Tendenz in den Medien, Dinge zu dramatisieren und bis zur Vergasung auszuschlachten. Ich denke da auch an die Berichterstattung zur Wahl eines FDP-Mannes zum Thüringer Ministerpräsidenten mithilfe von AfD-Stimmen.

    Jetzt habe ich in einer “Spiegel”-Ausgabe vom März gelesen, was der Verfassungsschutz so alles an Material gesammelt habe, das eindeutig eine Verfassungsfeindlichkeit der AfD belege. Es ist die “Spiegel”-Ausgabe mit der Titelgeschichte zur Gendersprache. Und es ist genau so, wie ich es mir gedacht habe. Das sind zu 100% völlig paranoide, von Belastungseifer geprägte Beispiele, die den angeblichen Rechtsextremismus der AfD belegen sollen.

    Schlümm das Ganze. Merkel als “Antidemokratin” bezeichnen. Ein Beispiel in der Liste. 🙂 Man kann das gar nicht beschreiben. Ausdrücklich negative Bezüge zur Nazi-Diktatur werden da als “rechtsextrem” ausgelegt.

    Ich halte die AfD nicht für Chorknaben, aber bei dem Thema herrscht eine ähnliche Paranoia wie bei anderen politischen Themen.

    PS: Interessantes Theme. Aber nach meinem Dafürhalten täte es der Lesbarkeit gut, wenn du öfter mal einen Absatz einfügst und damit den Textschwall reduzierst.

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